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Ukraine in der Krise

8. September 2005

Nach Streitereien und einem Korruptionsskandal hat der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko die Regierung entlassen. Damit steht er vor einem politischen Scherbenhaufen, meint Bernd Johann in seinem Kommentar.

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Der Präsident der Ukraine hat ein Machtwort gesprochen. Wiktor Juschtschenko hat die Regierung entlassen. Dieser Schritt war notwendig, er war sogar überfällig. Denn die Konflikte innerhalb des Regierungsapparates waren in den vergangenen Wochen immer weiter eskaliert. Das Land wirkte wie gelähmt. Politisch, vor allem auf dem Gebiet der Reformen, kam kaum noch etwas voran. Zuletzt erschütterte ein schwerer Korruptionsskandal die Ukraine, in dem sich Mitglieder der Regierung, der Präsidentenverwaltung und des einflussreichen Sicherheitsrates wechselseitig der Korruption bezichtigten.

Dürftige Regierungsbilanz

In dieser Situation musste der Präsident handeln. Die Bilanz der entlassenen Regierung unter der Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko war ohnehin dürftig. Wirtschaftlich ging es in den vergangenen Monaten steil bergab. Innerhalb der Regierung und zwischen Regierung und Präsident wurde über wichtige Reformprojekte erbittert gestritten, entschieden wurde jedoch wenig. Am sichtbarsten war dieser Konflikt bei der Abschaffung von Sonderprivilegien für Investoren und bei der Frage der Rücknahme der zweifelhaften Privatisierungen von großen Staatsbetrieben, die in der Zeit des Präsidenten Leonid Kutschma zu Schleuderpreisen an korrupte Eliten übergeben wurden. Westliche Investoren wurden zunehmend verunsichert.

Gebrochene Versprechen

Doch trifft nicht allein die Regierung die Verantwortung für die Krise in der Ukraine. Juschtschenko selbst, der strahlende Sieger der "orangenen Revolution" vom Herbst vergangenen Jahres, ist als Präsident mit dem Versprechen angetreten, den Sumpf aus Korruption und Amtsmissbrauch, der sich in der Zeit seines Vorgängers Kutschma in der Ukraine ausgebreitet hatte, trocken zu legen. Dass das nicht gelungen ist, zeigt der Korruptionsskandal mit aller Deutlichkeit.

Wie geht es nun in der Ukraine weiter? Juschtschenko hat Jurij Jechanurow, den bisherigen Gouverneur der Industrieregion Dnipropetrowsk, kommissarisch mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. Jechanurow gilt als reformorientiert und pragmatisch. Er ist ein enger Vertrauter des ukrainischen Präsidenten. Aber eine neue Mannschaft ist damit noch nicht in Sicht.

Juschtschenko als Einzelkämpfer?

Juschtschenko hat politische Weggefährten verloren und steht zumindest im Moment allein da. Zudem hat sein Image schweren Schaden genommen. Die Menschen in der Ukraine haben Juschtschenko und seinen Reformversprechen bei den Wahlen im vergangenen Jahr vertraut. Dieses Vertrauen ist erschüttert. Die Unzufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerung könnte schon bei den Parlamentswahlen im März nächsten Jahres Rückenwind für Sozialisten, Kommunisten und Anhänger des alten Kutschma-Regimes bringen.

Ein Dreivierteljahr nach der orangenen Revolution in Kiew, die den Aufbruch nach Europa, zu Marktwirtschaft und Rechtsstaat verkörperte, steht Präsident Juschtschenko deshalb vor einem politischen Scherbenhaufen. Es wird sich zeigen, ob er und die neue Regierung die Kraft zu einem neuen Anlauf haben, den das Land dringend braucht. Eine politische Alternative dazu ist nicht in Sicht.

Bernd Johann
DW-RADIO/Ukrainisch, 8.9.2005, Fokus Ost-Südost