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PolitikUkraine

Ukraine: Was, wenn das AKW Saporischschja gesprengt wird?

5. Juli 2023

Kiew warnt, russische Soldaten könnten auf zwei Kraftwerksblöcken im AKW Saporischschja Sprengstoff platziert haben. Die IAEA will dem Verdacht nachgehen. Eine Explosion könnte radioaktive Strahlung freisetzen.

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Blick auf das AKW Saporischschja
Hat die russische Armee das AKW Saporischschja vermint?Bild: Alexander Ermochenko/REUTERS

Bereits in den ersten Monaten der russischen Besetzung des Atomkraftwerks Saporischschja im Frühjahr 2022 meldete der ukrainische Betreiber "Energoatom", die russische Armee habe das Gelände wahrscheinlich vermint. Nach der Zerstörung der Staumauer des benachbarten Kachowka-Stausees Anfang Juni - mutmaßlich durch die russische Armee - teilte Kiew mit, die Besatzer hätten auch den Kühlteich des Kraftwerks vermint. Nun hat der ukrainische Generalstab gewarnt, russische Soldaten hätten auch an zwei Blöcken des AKW "sprengkörperähnliche Gegenstände" angebracht.

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) dagegen berichtete Ende Juni, dass sie keine Anzeichen für Minen oder anderen Sprengstoff an dem AKW gefunden habe. Nun hat IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi erklärt, dass Experten der Agentur für eine gründlichere Inspektion Zugang zu weiteren Bereichen des AKW benötigten, um auszuschließen, dass dort Sprengsätze angebracht sein könnten.

Schwachstelle Kühlsystem

Die ukrainische Expertin für Nuklearsicherheit Olha Koscharna unterstreicht, dass die Verminung wichtiger Bereiche der Kühlung eine direkte Bedrohung für das Kraftwerk darstelle. Dabei spiele das Wasser des Kühlteichs eine entscheidende Rolle. Mit ihm werden die Brennelemente der Reaktoren gekühlt, damit diese nicht durch Überhitzung schmelzen.

Ein Mann mit IAEA-Experte vor dem Kühlsee des Kernkraftwerks Saporischschja
Ein IAEA-Experte bei einem Besuch im Kernkraftwerk SaporischschjaBild: IAEA Handout/REUTERS

Dies sechs Blöcke des AKW Saporischschja sind seit letztem Herbst nicht mehr in Betrieb. Fünf davon befinden sich in einer Kaltabschaltung. Dmytro Humenjuk vom Zentrum für Nuklear- und Strahlensicherheit der Ukraine erläutert, müssen die Reaktoren zwar noch gekühlt werden, da die Brennelemente weiterhin Wärme abgeben, das Wasser kann aber nicht mehr verdampfen. Würde das Kühlsystem jedoch zerstört und flösse das Wasser ab, käme es den Experten zufolge nach acht Tagen zu einer Havarie.

Der sechste Reaktor jedoch befindet sich laut den Experten weiterhin in Heißabschaltung, obwohl die IAEA bereits vor vier Wochen auch dessen Kaltabschaltung angefordert hatte. Hier kann sich das Kühlwasser auf bis zu 280 Grad und würde bei einem Leck schnell verdampfen. Dann blieben laut Experten nur 27 Stunden Zeit, um den Austritt von Strahlung zu verhindern. "Ich denke, all dies - all diese Erpressungen und Drohungen - passiert, um die Gegenoffensive der ukrainischen Armee in dieser Region zu stoppen", meint Olha Koscharna.

Fukushima-Szenario in Saporischschja?

Eine Sprengung in einem beliebigen Teil des Kühlsystems könnte im AKW Saporischschja ein Szenario wie in Fukushima hervorrufen, meinen die Experten. Im Jahr 2011 wurde in dem japanischen AKW infolge eines Erdbebens und anschließender Überschwemmungen durch einen Tsunami die Kühlung von drei Reaktoren unterbrochen. Dies führte zu einer Kernschmelze und der Freisetzung radioaktiver Strahlung. "Daraufhin wurde eine Evakuierungszone geschaffen, die die Menschen verlassen mussten. Aber drei Jahre später kehrten sie aufgrund geringer Strahlenbelastung zurück, und jetzt ist nur noch ein Drittel dieser Zone übrig geblieben", erklärt Mark Zheleznyak, Professor am Institut für Umweltradioaktivität der Universität Fukushima (IER).

Blick auf das zerstörte AKW Fukushima nach der Katastrophe
Ein Tsunami führte zu einer Katastrophe im japanischen Kernkraftwerk FukushimaBild: Air Photo Service/Handout/dpa/picture alliance

Zheleznyak hält das Gefahrenpotenzial in Saporischschja für kleiner als in Fukushima: "Es würde keine Strahlenkatastrophe geben, weil es in einem abgeschalteten Block nicht zu einer Freisetzung von radioaktivem Jod kommen kann", betont der Wissenschaftler und rät, nicht in Panik zu verfallen und auch keine Kaliumjodid-Tabletten zu kaufen, die die Schilddrüse vor radioaktivem Jod schützen sollen.

2,5, 20 oder 550 Kilometer Umkreis betroffen?

Das Zentrum für Nuklear- und Strahlensicherheit der Ukraine hat zwei Szenarien für eine mögliche Havarie im Kernkraftwerk veröffentlicht. Bei dem ersten bleibt die ein Meter dicke Schutzhülle des Reaktors intakt und nur die Anlage darunter schmilzt. Dies könnte passieren, wenn der Strom komplett ausfallen oder das Kühlsystem beschädigt würde. Laut dem Wissenschaftler würde bei einem solchen Szenario ein Gebiet von 2,5 Kilometern rund um das AKW mit Strahlung belastet. "Dies würde im Grunde ausschließlich das Personal des Kraftwerks betreffen. In diesem Fall sollten sich Menschen nur innerhalb einer Schutzzone im Freien aufhalten. Eine Jodprophylaxe ist nicht erforderlich", heißt es in einer Mitteilung des Zentrums.

Das andere Szenario wäre eine Havarie eines Reaktors mit einer beschädigten Schutzhülle. "Bei diesem Szenario wird die Strahlenbelastung ein größeres Gebiet betreffen und schlimmere Folgen haben. Das Gebiet der Kontamination hängt von den Wetterbedingungen ab", erklärt das Zentrum.

Nach Berechnungen von Iwan Kowalez, Experte für Umweltinformatik von der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, könnte - je nach Windstärke und -richtung ein Gebiet von bis zu 20 Kilometern um das Kraftwerk von schwerwiegenden Folgen betroffen sein kann. "In diesem Fall ist eine sofortige Evakuierung der Menschen erforderlich", so der Experte. Aber auch in Gebieten bis 550 Kilometer vom Kraftwerk entfernt, könnte es gewisse Folgen für die Gesundheit der Menschen geben. "Bei solchen Entfernungen besteht aber keine Notwendigkeit für sofortige Gegenmaßnahmen oder eine Evakuierung", so Kowalez.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk