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Überraschender Freispruch

31. März 2016

Šešelj galt als einer der wildesten Hetzer in den Kriegen nach dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren. Doch Hassreden sind kein Verbrechen, entschied das UN-Tribunal in Den Haag.

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Nationalistenführer Seselj bei einem Auftritt in Belgrad (Foto: PIXSELL)
Bild: picture alliance/PIXSELL/S. Ilic

Der serbische Nationalistenführer Vojislav Šešelj ist vom UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien überraschend in allen Anklagepunkten freigesprochen worden.

Anklage erwägt Berufung

Dem ehemaligen "Chefpropagandisten von Groß-Serbien" waren neben Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Balkankriege in den 90er Jahren auch Hassreden gegen Kroaten und Muslime vorgeworfen worden. Die Anklage hatte 28 Jahre Haft gefordert. Sie erwägt, Berufung einzulegen. Das Urteil entspreche nicht der bisherigen "konsistenten Rechtsprechung des Tribunals", sagte Chefankläger Serge Brammertz.

Das Gericht sah in den während des Prozesses von der Anklage dokumentierten hetzerischen Äußerungen Šešeljs keine Grundlage für eine Verurteilung. In keinem der Anklagepunkte sei eine Verantwortung Šešeljs für Verbrechen gegen Kroaten und Muslime erwiesen, urteilte das Gericht ungewöhnlich deutlich.

Der Plan eines Groß-Serbiens sei "politisch zu beurteilen und ist sicher nicht kriminell", erklärte der Vorsitzende Richter Jean-Claude Antonetti. "Mit diesem Freispruch ist Vojislav Šešelj ein freier Mann."

Freiwillig dem Tribunal gestellt

Šešelj hatte sich 2003 selbst dem Tribunal gestellt. 2014 war er aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft in den Haag entlassen worden. Der 61-Jährige war zur Urteilsbegründung nicht in die Niederlande gekommen.

Auf einer Pressekonferenz in Belgrad erklärte Šešelj, die Richter hätten aus juristischer Sicht die "einzig mögliche Entscheidung getroffen". "Nach all den Prozessen gegen unschuldige Serben, die drakonische Strafen erhalten haben, gibt es nun ein Urteil von ehrenwerten und fairen Richtern." Beobachter erwarten, dass Šešeljs "Serbische Radikale Partei" (SRS) bei der vorgezogenen Parlamentswahl am 24. April von dem Freispruch profitieren wird. Laut Umfragen liegt sie derzeit leicht über der Fünf-Prozent-Hürde.

Zehntausende Kriegstote

In den Kriegen nach dem Zerfall des kommunistischen Vielvölkerstaates Jugoslawien waren von 1991 bis 1995 Zehntausende Menschen getötet und vertrieben worden. Erst vor einer Woche hatte das UN-Tribunal den Chef der bosnischen Serben während des Krieges, Radovan Karadzic, zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt, unter anderem wegen des Völkermordes an Muslimen in Srebrenica.

Enttäuschung in Kroatien

Empört über den Richterspruch äußerte sich Kroatiens Regierungschef Tihomir Oreskovic. Das Urteil sei "schändlich" und eine Niederlage für das Haager Gericht und die Staatsanwaltschaft, sagte er vor Journalisten. Šešelj habe keinerlei Reue gezeigt, "weder damals noch heute". Auch der Präsident einer Vereinigung früherer kroatischer Kriegsgefangener zeigte sich "zutiefst enttäuscht". Šešeljs Freispruch trage nicht zur Versöhnung bei, sagte Danijel Rehak. Die Regierung in Zagreb verhängte gegen Šešelj ein Einreiseverbot.

wl/bor (dpa, afp, rtr)