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"Uns fragt ja keiner, wie es uns geht!"

Thomas Kohlmann
18. Juni 2020

In der Corona-Krise werden sie häufig als Regelbrecher wahrgenommen. Nur selten geht es darum, was junge Menschen in Deutschland in diesen Zeiten bewegt. Persönliche Gespräche und eine aktuelle Studie geben Einblicke.

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Die Archtektin Lavinia Krick (re.) mit Kolleginnen beim Einsatz in Tansania für ihr Projekt Supertexture
Bild: privat

Monatelang ist an den Schulen der Unterricht ausgefallen, es gibt weniger Ausbildungs- und Praktikumsstellen für Schulabgänger und in vielen Hochschulfächern kam die Online-Lehre nur holprig in Gang. Dazu kommt noch der riesige Schuldenberg, der die Corona-Krise abmildern soll - mit dessen Folgen aber künftige Generationen klarkommen müssen.

In Deutschland spielten junge Menschen kaum eine Rolle in der öffentlichen Debatte - außer bei der Berichterstattung über illegale Corona-Partys oder die Verletzung von Kontaktbeschränkungen und anderen Pandemie-Auflagen. Kaum jemand hat sich bislang dafür interessiert, was junge Menschen bewegt, die mit den Einschränkungen der Corona-Krise klarkommen müssen.

"Deswegen haben wir uns selber auf den Weg gemacht und gesagt: Okay, wir wollen die mal gerne fragen. Wir wollen mal wissen, wie es ihnen überhaupt geht und was sie beschäftigt und wie deren aktuelle Lage ist", sagt Anna Lips im Interview mit der DW. Die Sozialwissenschaftlerin ist Mitglied eines Forscher-Teams der Universität Hildesheim und der Goethe-Universität Frankfurt, das die "Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen" untersucht hat.

Online-Studie aus dem Homeoffice  

Zwischen Mitte April und Anfang Mai befragten die Wissenschaftler per Online-Fragebogen bundesweit mehr als 6000 junge Menschen ab 15, mit denen sie über soziale Medien und persönliche Netzwerke Kontakt aufnahmen. Zusätzlich konnten die Befragten in einem Freitext-Bereich schreiben, was sie bewegt.

Der Tenor der Antworten war deutlich, so Lips: "Viele Jugendliche oder junge Erwachsene haben angegeben, dass sie sich nicht gehört fühlen, dass sie sagen: Wir haben das Gefühl, unsere Sorgen und Probleme werden nicht gehört. Uns fragt ja keiner, wie es uns geht!"

Anna Lips, Sozialwissenschaftlerin an der Universität Hildesheim
Sozialwissenschaftlerin Anna Lips: "Okay, da fragen wir mal nach!" Bild: Privat

Das sei zwar auch schon vor Corona häufig zu hören gewesen, doch in der Corona-Krise fühlten sich viele von der Politik erst recht nicht ernst genommen, so Lips. Eine junge Frau habe geschrieben: "Ich bin Schülerin und habe das Gefühl, dass die Politik uns vergisst. Es geht um unsere Zukunft".

Andere treibt beim Blick in die Zukunft auch die Frage um, wie die Milliarden- und Billionen Euro an Schulden einmal zurückgezahlt werden sollen. "Wir haben das nicht explizit abgefragt. Aber wenn man sich die Freitext-Antworten ansieht, dann gibt es schon einige, die sagen: Ja, das wird irgendwann auf uns zurückfallen. Es wird uns irgendwann beschäftigen, was mit diesen vielen Geldern ist", sagt Lips.

Andererseits gebe es aber auch Stimmen, die befürchten, dass wichtige Themen beim Krisenmanagement der Regierung zu kurz kommen - etwa der Klimaschutz, weil sich aktuell so viel um Wirtschaft und wirtschaftliche Interessen drehe.

Insgesamt gingen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen aber durchaus gut mit der Krise um, "eine Mischung aus pragmatischem Blick, der aber trotz allem an vielen Stellen hochsensibel ist", unterstreicht die Sozialwissenschalftlerin von der Universität Hildesheim. "Die jungen Menschen merken schon jetzt, dass natürlich irgendwie etwas Großes passiert. Und das verändert ihr eigenes Leben massiv - für den Moment und vielleicht auch langfristig oder mittelfristig. Und gleichzeitig gibt es eine hohe Sensibilität für andere, nicht nur: 'Oh, jetzt bin ich das erste Mal in einer Krise. Und was macht es so mit mir?' Sie haben auch weiterhin einen Blick darauf, was mit denen ist, denen es noch viel schlechter geht", sagt Lips.

Lavinia, 24 Jahre, Architektin aus Bonn

Planänderungen aus dem Nichts

Lavinia Krick ist eine junge Architektin aus dem Bekanntenkreis des Autors. Sie war vor kurzem noch in Tansania, um etwas für andere Menschen auf die Beine zu stellen. In Kipili am Tanganjikasee war sie dabei, die ersten Bauabschnitte für ein ehrgeiziges Projekt abzuschließen.

Sie und andere junge deutsche Freiwillige wollen dort zusammen mit Einheimischen direkt am Ufer des Sees einen Kindergarten, ein medizinisches Zentrum und eine Community-Lodge bauen. Das alles aus umgebauten Fracht-Containern (Artikelbild), die es in dem ostafrikanischen Land in Hülle und Fülle gibt.

Langfristig will dort die gemeinnützige Organisation Supertecture - ein Zusammenschluss junger Architektinnen und Architekten mit Sitz in München - ein Hotelprojekt auf die Beine stellen, das künftig von den Dorfbewohnern verwaltet werden soll.

"Aufgrund der Corona-Krise mussten wir die Arbeit an unserem Unterkunftsgebäude unterbrechen und auf unbestimmte Zeit nach Deutschland zurückkehren", erzählt die 24-Jährige. In wenigen Stunden musste Lavinia mit den anderen Deutschen vor Ort ihre Sachen packen, um in einer Zwei-Tage-Fahrt quer durch Tansania nach Daressalam zu kommen. Von dort ging es mit einem der letzten Langstreckenflüge zurück nach Deutschland.

"Es ist uns schwer gefallen, das Projekt alleine zu lassen und die Menschen vor Ort zu enttäuschen", sagt Lavinia. Dass sie das Projekt unvollendet zurücklassen musste, beschäftigt sie mehr als ihr geplatztes Praktikum im Sommer, mit dem sie die Zeit bis zum Beginn des Master-Studiums im Herbst nutzen wollte.

Jetzt wohnt sie nach vier Jahren Studenten-WG und abgeschlossenem Bachelor-Studium wieder bei ihren Eltern in Bonn. "Das war schon eine große Umstellung", sagt sie, "aber mittlerweile genieße ich auch gewisse Freiheiten: dass ich Dinge in die Hand nehmen kann, die ich schon immer machen wollte."

Fynn, 19 Jahre, Abiturient aus Köln

Laborversuch Corona-Abitur

Fynn Blömer hat gerade unter Corona-Bedingungen sein Abitur gemacht. Der 19-Jährige aus Köln geht mit der unerwarteten Situation ebenfalls pragmatisch um und hat sich damit abgefunden, dass es für seinen Jahrgang weder Abi-Mottowochen, noch Partys oder große Abi-Bälle gibt. Auch, dass er seinen Job bei einer Catering-Firma wegen Corona verloren hat, hat er längst abgehakt. Das Geld braucht er vorläufig sowieso nicht, weil seine geplante große Reise nach dem Abitur bis auf absehbare Zeit sowieso nicht stattfinden kann. Was ihn mehr ärgert, ist das weit verbreitete Desinteresse an den Problemen junger Menschen.

"Ich fühle mich von der Politik in der Corona-Krise nicht ernst genommen", sagt er und denkt dabei an die Petitionen und Unterschrifts-Aktionen, mit denen sich der aktuelle Abitur-Jahrgang zu Wort gemeldet hatte - und der sehr überschaubaren Resonanz von Schulbehörden und Politik. "Dass in solchen Krisenzeiten unsere Stimmen und so viele Unterschriften untergehen, finde ich sehr enttäuschend und ich hoffe, dass sich das in Zukunft ändern wird." 

Sebastian, der Sohn des Autors, ist 20 und studiert Wirtschaftsinformatik in Münster. Auch er hat - wie rund 40 Prozent aller Studierenden - seinen Job in der Gastronomie verloren und kommt einigermaßen über die Runden in der teuren Universitätsstadt. Der Umstieg auf das Online-Semester hat in seinem Studienfach besser geklappt als bei Kommilitonen mit anderen Studienfächern.

Aber er vermisst die gemeinsame Gruppen- und Projektarbeit und hofft, dass es vielleicht schon wieder im Wintersemester eine allmähliche Rückkehr zum normalen Unibetrieb geben wird. "Es gibt wohl einige Politiker, die sich dafür interessieren, was junge Leute sagen. Aber generell habe ich eher weniger das Gefühl, dass unsere Interessen und unsere Stimmen irgendwie in der Politik vertreten sind, da viel Wert auf die Wirtschaft gelegt wird", sagt Sebastian. Als Studierender fühle er sich deswegen für die Entscheider nicht so wichtig. Mittlerweile gibt es zumindest finanziell ein Trostpflaster: Seit Dienstag (16.06.) können Studierende, die in einer finanziellen Notlage sind, einen Zuschuss beantragen. 

Sebastian, 20 Jahre, Student aus Münster

Glück beim Timing

Zwei junge Männer aus seinem Freundeskreis sind gerade in einer Ausbildung, Jakob im Garten- und Landschaftsbau, Ruben als Physiotherapeut. Beide haben Glück gehabt. Sie haben ihre Azubi-Stellen 2018 und 2019 angetreten und sind bislang ohne größere Bremsspuren und Einkommensverluste durch die Corona-Krise gekommen.

Für viele, die in diesem Jahr eine Ausbildung beginnen wollten, sieht es aber eher schlecht aus. "Viele Auszubildende gehören jetzt schon zu den großen Verlierern der Corona-Krise, warnt Arbeitsmarktforscher Stefan Sell von der Hochschule Koblenz. Im Interview mit dem Fernsehsender 3Sat malt er ein düsteres Bild. "Die rund 1,4 Millionen Azubis spielen in der Berichterstattung nur am Rande eine Rolle und das besorgt mich."

Risikogruppen am Arbeitsmarkt

Schon im August und September beginnt das neue Ausbildungsjahr und viele Verträge kommen gar nicht zustande, so Sell, weil etwa im Handwerk oder in der Gastronomie die Unternehmen zögern und nicht wissen, wie sich die Corona-Lage im Herbst weiter entwickeln wird, unterstreicht der Arbeitsmarktexperte.

"Selbst wenn im nächsten Jahr alles wieder nach oben gefahren wird, wird ein Teil derjenigen, die jetzt nicht zum Zug kommen, nach allen Erfahrungen, die wir aus der Vergangenheit haben, Probleme bekommen und zwar jahrelange Probleme."

Sell sieht dringenden Handlungsbedarf und appelliert an Politik und Wirtschaft, eine Übergangslösung für das nächste Ausbildungsjahr zu finden. Die Politik scheint ihn erhört zu haben: Denn nach Medienberichten vom Wochenbeginn plant die Bundesregierung, mit bis zu 500 Millionen Euro Betriebe zu unterstützen, die trotz Corona weiter Lehrlinge ausbilden. Im Gespräch ist eine Ausbildungsprämie von 2000 bis 3000 Euro pro Lehrstelle für kleine und mittelständische Unternehmen. 

Das Millionen-Heer ungelernter junger Menschen sei in Deutschland auch schon vor der Corona-Krise ein riesiges Problem gewesen, das jetzt noch größer wird, warnt der Arbeitsmarkt-Experte. "Wir haben zurzeit 2,1 Millionen zwischen 20- und 30-Jährige, die keinen Berufsabschluss haben. Das ist unsere Hochrisiko-Gruppe am Arbeitsmarkt."