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Bremsen lernen

24. Januar 2011

Der schwere Sturz des Skirennfahrers Hans Grugger in Kitzbühel sorgt für Diskussionen darüber, wie viel Risiko verantwortbar ist. Ein Schweizer Psychiater bietet eine Hypnose-Therapie für Risikosportler an.

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Der in Kitzbühel verunglückte Skirennfahrer Hans Grugger wird abtransportiert. Foto: AP
Grugger wird abtransportiertBild: APImages

Die "Mausefalle", die mit einem Gefälle von 85 Prozent steilste Stelle der berühmt-berüchtigten "Streif", schnappte zu. Hans Grugger verlor am vergangenen Donnerstag (20.01.2011) beim Training zur alpinen Ski-Weltcupabfahrt in Kitzbühel die Kontrolle über die Ski und knallte mit dem Kopf auf die eisige Piste. Der 29 Jahre alte Österreicher blieb bewusstlos liegen. Mit schweren Kopfverletzungen wurde er in die Universitätsklinik Innsbruck eingeliefert. In einer fünfeinhalbstündigen Notoperation retteten die Ärzte dem Skirennfahrer das Leben. Jetzt wird Grugger im künstlichen Koma gehalten.

Ski-Cross-Rennläufer bei einem Sprung. Foto: dpa
Wieviel Risiko ist nötig, wieviel darf sein?Bild: picture-alliance/ dpa

Die Liste schwerer Stürze im Skiweltcup ist lang. So regelmäßig wie Unfälle passieren, werden auch deren Ursachen diskutiert. Der Sturz Gruggers löste eine erneute Debatte über die Schwierigkeit der Strecken aus. Athleten haben darauf wenig Einfluss. Steuern können sie aber ihr eigenes Verhalten. Ein bekannter Slalom-Spezialist suchte deshalb Hilfe beim Schweizer Sportpsychiater Dr. Johannes Disch.

"Er hat nicht mehr gespürt, wo es zuviel ist"

Sportpsychiater Dr. Johannes Disch im November 2010 in der Stadthalle Heidelberg nach seinem Seminar. Foto: Birgit Reichardt
Sportpsychiater Johannes DischBild: Birgit Reichardt

Der Offensivdrang des Weltcup-Fahrers, seine Angriffslust, sei zu groß geworden, erklärt Disch. "Er hat nicht mehr gespürt, wo es eigentlich zu viel ist. Dann ist er immer wieder gestürzt." Rennläufer gingen regelmäßig an ihre körperlichen und geistigen Grenzen, häufig auch darüber hinaus. Dies sei ein typisches Merkmal für Risiko- oder Extremsportler, sagt Disch. Eine Ursache für die Risikoneigung sei eine neurobiologische Besonderheit: eine Unterversorgung mit dem Botenstoff Dopamin, der auf die Motivation einwirke: "Wenn wir das spüren im Blut, dann gibt uns das so ein lebendiges, gutes, waches Gefühl, dass man noch ein wenig mehr davon möchte. Und es gibt eine Theorie, dass das Leute sein können, die genetisch dazu verdammt sind, diese Gefahr einzugehen, weil sie quasi Dopamin-Defizient sind."

"Genetisch verdammt, Risiken einzugehen"

15 Prozent der Menschen gehörten zu den sogenannten "sensation-seekern", denjenigen, die immer wieder die Sensation, den Kick suchten, so der Psychiater. Ziel seiner Arbeit, sei es, Gehirnbereiche der Sportler zu aktivieren, die das Verhalten steuern: Die Risikofreude des Athleten soll gehemmt werden. Dabei setze er Techniken der medizinischen Hypnose ein. Es sei nachgewiesen, dass man in Trance zentralnervöse Gehirnbereiche erreichen kann, dort wolle er hemmende Muster aktivieren. Bei der sogenannten Aktiv-Wach-Hypnose ist der Athlet während einer Trance in Bewegung, zum Beispiel auf einem Trimmrad. Gedanklich und emotional begibt er sich in eine Situation, die eine Grenzerfahrung darstellt. Im Falle eines Ski-Rennläufers kann das zum Beispiel die Abfahrtspiste in Kitzbühel sein.

Trance - Grenzerfahrung mit allen Sinnen

Dr. Johannes Disch führt im November 2010 die Methode der Aktiv-Wach-Hypnose auf dem Kongress "Mentale Stärken" in Heidelberg mit einer Fachkollegin vor. Foto: Birgit Reichardt
Aktiv-Wach-HypnoseBild: Birgit Reichardt

Während sich der Athlet in die Situation einfühlt, wird er, musikalisch unterstützt, vom Therapeuten unmittelbar an seine Grenzen geführt: "Ist da vielleicht eine Grenze, in die du hineingehen möchtest? Willst du dort hineingehen oder vielleicht auch zurück?", sagt Disch einer Fachkollegin, als er die Methode bei einem Seminar vorstellt. Der Athlet stelle sich die Situation nicht einfach vor, in Trance erlebe er die Abfahrt, mit allen Sinnen. Dabei mache er die Erfahrung, wie weit er gehen kann, ohne sich in Gefahr zu begeben.

Eine therapeutische Gratwanderung

Bei seiner Arbeit erfährt der routinierte Mediziner auch seine eigenen Grenzen: Dort, wo einerseits der größte Wunsch bestehe, die Angst des Sportlers noch weiter in den Hintergrund treten zu lassen, treffe man auf die andere Seite, dass einige Athleten doch Bedenken hätten. Dann sei man mitten drin im Spannungsfeld. "Diese Arbeit ist immer eine therapeutische Gratwanderung. Gehemmt werden soll die überschießende Aktivität. Die muss in einen vernünftigen Bereich kanalisiert werden. Wenn diese Angriffslust zu stark gebremst ist, kann man nichts abholen. Wenn sie zu stark gebremst ist, dann passiert vielleicht ein Unfall."

"Wenn du mich liebst, holst du mich hier raus"

Der Schweizer Skirennfahrer Daniel Albrecht stürzt 2009 beim Abfahrtsrennen in Kitzbühel schwer. Foto: dpa
Auch der Schweizer Daniel Albrecht stürzte 2009 in Kitzbühel schwerBild: picture-alliance/ dpa

Angst dürfe man nicht haben, lautet häufig die Theorie im Profi-Sport. Trotz der Risikoneigung, spiele Angst aber auch bei alpinen Ski-Rennläufern eine Rolle. So habe einer seiner Klienten, ein Abfahrtsspezialist, seine Frau einen Tag vor einem Weltcup-Rennen gebeten: "Wenn du mich liebst, holst du mich hier raus." Der Athlet startete dennoch und belegte einen Platz unter den ersten Zehn. Angst sei nur dann ein Problem, wenn sie den Athleten lähme, erklärt der Sportpsychiater. Tritt sie auf, müsse man ergründen, was diese Angst bedeute. Sie sei kein Hindernis, diesen Sport zu betreiben.

Grenzen erleben, aber am Leben bleiben

Im Fall des Slalomfahrers habe die Arbeit offenbar angeschlagen. Bei seinem ersten Weltcup-Sieg hätten ihn während einer schwierigen Passage folgende Gedanken begleitet: "Nur nicht übertreiben, aber auch nicht bremsen." Der Schweizer Bergsteiger Ueli Steck, der im Jahr 2008 ohne Seilsicherung in weniger als drei Stunden die Eigernordwand hinauf kletterte, formulierte, was ihn als Risikosportler bewege, so: "Ich will an meine Grenzen kommen, aber nicht über sie hinaus gehen, denn ich möchte am Leben bleiben. Aber um dieses Leben intensiv zu erleben, muss ich an die Grenzen gehen."

Autorin: Birgit Reichardt
Redaktion: Stefan Nestler