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Unterricht im Wohnzimmer

Karin Lamsfuss23. Dezember 2004

Es gibt in Deutschland Eltern, die ihre Kinder lieber selbst und zu Hause unterrichten. "Homeschooling" nennt sich das, wie in den USA. Wegen der Schulpflicht ist das illegal, 200 deutsche Eltern riskieren es trotzdem.

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Kinder dürfen nur in Schulen unterrichtet werden - theoretischBild: dpa

Das Vertrauen von Dorothee Becker in das Schulsystem ist zerstört. Keines ihrer vier Kinder besucht eine öffentliche oder private Schule. Was sie als Eltern vermitteln wollen, Moral und Nächstenliebe, werde in der Schule nicht mehr ernst genommen. Außerdem seien Noten ein schlechtes Ziel, "der Druck ist so groß, dass es gar nicht mehr wichtig ist, was das Kind kann", sagt sie. "Und deshalb habe ich für mich persönlich die Noten abgeschafft!"

Nachdem die Familie acht Jahre auf den Philippinen verbracht hatte, kehrte sie glücklich nach Deutschland zurück. Die Eltern freuten sich auf die gewohnte Umgebung, die bekannte Sprache, und die Kinder freuten sich auf die deutsche Schule. Becker erzählt, dass es nur ein halbes Jahr gedauert habe, bis ihre Kinder "kaputt" gewesen seien. Aus dem Ausland kommend sei es sehr schwer für sie gewesen, sich in die Klassen zu integrieren, sagt Dorothee Becker. "Obwohl die Lehrer sich sehr bemüht haben, aber die Kinder, die Sozialisation in der Schule, haben sie ganz negativ erlebt. Als unser Ältester zum Beispiel ein deutsches Wort nicht wusste, haben alle gelacht und sich umgedreht und sind davongelaufen."

Schule hat krank gemacht

Alle vier Kinder wurden nacheinander krank. Dorothee Becker schob das auf den Druck und den Frust in der Schule. Die studierte Ernährungstechnikerin besorgte sich eine Unmenge von Büchern und Lehrplänen und beschloss, ihre vier Kinder kurzerhand selbst zu unterrichten. Ganz normal von 8.00 bis 12.00 Uhr, am Wohnzimmertisch. Die Beckers haben ihre Kinder dafür einfach beim Schulleiter abgemeldet. "Der hat gesagt: 'Ich versteh Sie, ich werde Ihnen keine Schwierigkeiten machen'", erinnert sich Dorothee Becker. Was sie nicht wusste, eignete sie sich an. Das Problem: In Deutschland besteht Schulpflicht, und Ausnahmen von dieser Regelung genießen nur Kinder von Zirkusfamilien oder Kinder, die lange im Krankenhaus liegen.

Probleme mit dem Ordnungsamt

Nachdem die Beckers ihre Kinder von der Schule genommen haben, gab es Schwierigkeiten. Der Mann von Ordnungsamt sei peinlich berührt gewesen, sagt Dorothee Becker, er müsse die Kinder abholen und zur Schule bringen lassen. "Da hat mein Mann gesagt: Ja gut, das sind also vier Kinder, dann brauchen Sie vier Polizisten, die dann vor den vier Klassenzimmertüren stehen bleiben und dann mussten wir alle lachen." Auf die Frage, wann die Schulpflicht zuletzt auf diese Weise durchgesetzt worden sei, habe der Mann vom Ordnungsamt geschwiegen.

Schulabschluss für Wohnzimmerschüler

Dorothee Becker und die geschätzten weiteren 200 Familien, die diesen radikalen Schritt aus den unterschiedlichsten Gründen gehen, befinden sich in einer juristischen Grauzone. Eigentlich ist ihr Handeln illegal, und trotzdem passiert es, dass die zuständige Schulbehörde ein Auge zudrückt und diese Entscheidung stillschweigend duldet - vor allem dann, wenn so ein überdurchschnittliches Engagement zu spüren ist.

Obwohl die Becker-Kinder im Alter von 10 bis 18 Jahren zuhause unterrichtet werden, können sie einen externen und anerkannten Schulabschluss machen. Zwei der vier haben das bereits geschafft - mit zähem Lernen versteht sich. Experten kritisieren bei derartigen "Schulverweigerern" ein fehlendes Sozialverhalten, sowie mangelnde Konflikt- und Durchsetzungsfähigkeit. Dorothee Becker sieht jedoch andere Vorteile: "Sie haben einfach die Freiheit zu lernen. Sie empfinden Lernen nicht als etwas Beengendes, als einen Zwang, von dem man so schnell wie möglich weg muss. Unser zweiter Sohn, der hat einmal nach zehn Tagen Urlaub gesagt: 'Ich lern jetzt wieder!'"