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Taksim ist überall

Sabine Oelze18. Juni 2013

Hunderttausende protestieren in der Türkei gegen die Politik von Ministerpräsident Erdogan. Auch in Deutschland schließen sich immer mehr Menschen dem Aufbegehren an; Kulturschaffende fordern ein Ende der Gewalt.

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Mehrere hundert Türken demonstrieren am in Berlin gegen die Auflösung von Protesten in Istanbul. Foto: Ole Spata/dpa
Berlin Solidarität Protest Istanbul TürkeiBild: picture-alliance/dpa

Mehr als 12.000 Künstler, Schauspieler und Regisseure unterstützen inzwischen den Appell an Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel. Darin fordern sie ein Ende der Gewalt gegen die Bevölkerung in der Türkei. "Bitte schauen Sie nicht zu", heißt es in dem offenen Brief, in dem die Bundeskanzlerin gebeten wird, die türkische Regierung zum Einlenken zu bewegen. "Die Angelegenheiten der Türkei sind auch unsere Angelegenheiten", sagt der Schriftsteller Imran Ayata, der in Berlin lebt und gemeinsam mit Sherman Langhoff, Intendantin des Berliner Maxim Gorki-Theaters, den Internetaufruf initiiert hat.

Ein Mann steht auf dem Taksim Platz
Friedlicher Protest auf dem Taksim-Platz: ruhiges StehenBild: Reuters

Die Türkei geht uns alle an!

"Wir wollen ein Zeichen setzen und dazu aufzufordern, die Vorfälle in der Türkei auf politischer Ebene zu thematisieren", so Ayata. Zu den Erstunterzeichnern gehören nicht nur der türkisch-deutsche Regisseur Fatih Akin, der auch schon einen Brandbrief an den türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül geschickt hat, in dem er fordert: "Stoppen Sie diesen Irrsinn!" Beteiligt sind auch deutsche Film- und Theaterregisseure wie Dani Levy, Lukas Langhoff oder René Pollesch. "Niemand ist so naiv, davon auszugehen, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel oder ihre europäischen Kollegen das Heft des Handelns in die Hand nehmen. Es wäre natürlich auch keine geeignete Lösung, wenn sich die EU einmischen würde, aber das, was da passiert, geht alle an.", sagt der türkisch-deutsche Schriftsteller Imran Ayata.

Der 44-jährige ist einerseits "elektrisiert" von der neuen Sprache des Protests und zugleich skeptisch, ob die Demonstranten in dieser Intensität weitermachen können. "In der Türkei gibt es zu wenig Konsens", meint Ayata. Die konkurrierenden Interessensverbände würden ihre eigenen Ziele verfolgen. Es sei deshalb zu früh, von einem nachhaltigen Bündnis zu sprechen, das einen dritten Weg einschlägt, meint der Autor.

Imran Ayata
Der Autor Imran AyataBild: I. Ayata

Die Leute sind es leid

Devrimsel Deniz Nergiz, Soziologin an der Universität Bielefeld, ist diesbezüglich optimistischer. "Die meisten Protestierenden sind jung, kreativ und sehr gewillt, durchzuhalten", sagt die 31-jährige, die in Berlin verschiedene Demonstrationen organisiert hat. In der Türkei sei ein gesellschaftlicher Aufbruch zu spüren. "Die Hemmschwelle der Jugendlichen, auf die Straße zu gehen, ist geringer geworden." Die Abholzung des Gezi-Parks habe das Fass nur zum Überlaufen gebracht. Immer mehr Menschen wollten sich nicht länger durch die Politik von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in ihrem alltäglichen Leben einschränken lassen. Das Alkoholverbot sei dabei nur ein kleines Detail. Kultur-Festivals seien abgesagt, Theaterbühnen geschlossen und Kinos abgerissen worden. "Ein kleines Beispiel: In Ankara sind zwei Jugendliche in der U-Bahn beim Küssen von einer Kamera beobachtet worden. Daraufhin hat es eine Warndurchsage gegeben: 'Passt auf die ethischen Regeln unserer Gesellschaft auf', hat es da geheißen."

Die Eskalation der Gewalt erklärt Nergiz so: "Zum ersten Mal nach elf Jahren Amtszeit gibt es Widerstand gegen die Politik von Erdogan. Das ist er nicht gewohnt. Er hat noch keine Strategie entwickelt und greift deshalb zu so drakonischen Maßnahmen." Die Ankündigung, notfalls auch das Militär einzuschalten, hält sie allerdings nur für eine "verbale Drohgebärde".

Hunderttausende Devrimsel Nergiz
Soziologin und Aktivistin Devrimsel NergizBild: D. Nergiz

Angst vor Gewaltausbrüchen

Auch für die Schauspielerin Sema Meray ist die Niederschlagung der Proteste am Gezi-Park nur das Symptom einer schleichenden Unterhöhlung der demokratischen Grundrechte in der Türkei. Die Brutalität sei dabei eine traurige, aber durchaus logische Konsequenz: "Zum ersten Mal muss sich Erdogan behaupten: Die Proteste richten sich gegen ihn. Nicht gegen die Regierungspartei AKP, sondern gezielt gegen seine Person. Das bringt ihn in Bedrängnis." Auch sei es kein Zufall, dass die Situation ausgerechnet am Taksim-Platz eskaliert sei. "Erdogan nimmt verstärkt Künstler und Andersdenkende ins Visier. Taksim war eine ganz liberale Gegend. Aber zuletzt gab es viele Übergriffe gegen Homosexuelle und Transsexuelle." Die Entwicklung hin zu einem immer stärkeren islamisch-religösen Nationalismus mache sich auch im Stadtbild bemerkbar: "Früher sah man überall bunte Farben. Jetzt tragen viele Frauen nur noch die schwarzen Einheitsgewänder mit Kopftuch". Am liebsten würde die Schauspielerin in die Türkei fahren und Unterstützung leisten. Doch sie hat Angst, zwischen die Fronten zu geraten.

Bewegung der Solidarität und der Toleranz

Ähnlich sieht es Ögunc Kardelen, der sich reiflich überlegt hat, ob er seinen Namen öffentlich macht. Der Opernsänger lebt seit zehn Jahren in Köln und zieht es vor, sich nicht politisch zu äußern, um nicht seine Familie in der Türkei in Bedrängnis zu bringen. Er setzt große Hoffnung in die "Toleranzbewegung", wie er die Proteste bezeichnet.

"Die Menschen scheinen aufgewacht zu sein. Sie haben gemerkt, wie wichtig der Zusammenhalt ist. Sie merken, dass die Medien die Zustände verschleiern. Nun fragen sie sich, ob sie überhaupt jemals die Wahrheit gezeigt bekommen haben." Das habe den Menschen nicht nur die Augen geöffnet, es habe sie auch zusammengebracht. Zum ersten Mal seien sich unterschiedliche gesellschaftliche Gruppierungen und Kulturen näher gekommen. "Das ist für die ganze Welt eine wichtige Botschaft und ich bin stolz, dass die Türkei vorausgeht."