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Reise

Barrierefreies Reisen in Deutschland

Felix Schlagwein
3. Dezember 2021

Wer in Deutschland mit einer Behinderung reisen will, hat es immer noch schwer. Das wird wohl auch unter der nächsten Bundesregierung so bleiben. Doch es gibt auch Lichtblicke.

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Ein Mann im Rollstuhl fährt in einen Zug
Für Menschen mit Beeinträchtigungen ist Reisen teils beschwerlichBild: picture-alliance/R.Schlesinger

Wenn Jonas Morgenroth in den Urlaub fahren will, wird es oft kompliziert. Denn der 34-jährige Ingenieur aus Göttingen sitzt im Rollstuhl. Da können eine Schwelle am Bahnsteig oder eine zu schmale Hotelzimmertür zum unüberwindbaren Hindernis werden. Manchmal kann er die Reise auch gar nicht erst antreten. Als er vor einigen Jahren nach Bulgarien zur Hochzeit eines Freundes wollte, nahm ihn die Fluggesellschaft nicht mit. Die Maschine sei zu klein, für seinen Rollstuhl kein Platz, hieß es. Zur Hochzeit konnte er nicht. Auch die Bahn verwehrte ihm einmal die Mitreise, weil die Behindertentoilette im Zug nicht funktionierte. "Es ging um eine Fahrt von 20 Minuten, das war wirklich ein Witz", sagt Morgenroth im DW-Gespräch.

Jonas Morgenroth, ein 34-jähriger Rollstuhlfahrer lacht in die Kamera
Für Jonas Morgenroth ist Reisen manchmal unnötig kompliziertBild: Privat

Meistens klappt die Bahnfahrt dann doch - allerdings nur mit viel Planungsaufwand. Ein Ticket mit der App zu kaufen ist nicht möglich. Stattdessen muss Morgenroth spätestens 24 Stunden vor Abfahrt über eine kostenpflichtige Hotline buchen. Spontaner Wochenendtrip? Fehlanzeige. "Das nervt einfach", sagt Morgenroth - und setzt deshalb oft auf das eigene behindertengerechte Auto.

Zu wenige Verpflichtungen für die Tourismusbranche

Wie schwierig Reisen für die rund 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigung in Deutschland vielerorts noch immer ist, weiß auch Volker Sieger, Leiter der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit. Er und sein Team beraten Behörden und Verwaltung, aber auch Vertreter aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft, wie sie Barrierefreiheit stärken können. Zwar habe sich in den vergangenen Jahren vor allem in den Bereichen Bauen und IT "eine Menge bewegt". Beim Thema Reisen sei die Lage allerdings "weiterhin schlecht", sagt Sieger gegenüber der DW.

Volker Sieger, Leiter der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit, schaut frontal in die Kamera
Volker Sieger leitet die Bundesfachstelle für BarrierefreiheitBild: Melanie Garbas/KBS

Das liegt vor allem daran, dass Privatunternehmen nicht dazu verpflichtet sind, ihr Angebot barrierefrei zu machen. Die meisten Hotels und Ferienwohnungen beispielsweise sparen sich deshalb den behindertengerechten Umbau. Ein Hoffnungsschimmer war das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, mit dem in diesem Sommer eine EU-Richtlinie umgesetzt wurde. Erstmals müssen damit auch Privatunternehmen ihre digitalen Produkte und Dienstleistungen barrierefrei anbieten - mit einer Übergangsfrist bis 2025. Doch Behindertenverbände kritisierten, dass das Gesetz ausschließlich Auswirkungen im Digitalen habe. "Deutschland ist nicht über das hinausgegangen, was die EU vorgeschrieben hat, obwohl das möglich gewesen wäre", sagt Volker Sieger.

Betroffenen wird das neue Gesetz bei der Reise also eher wenig weiterhelfen. Eine Sehbehinderte etwa kann zwar ein Hotel online finden und buchen, dieses muss dann aber nicht zwingend barrierefrei sein, selbst wenn es als solches gekennzeichnet ist. Denn oft schmücken sich touristische Angebote damit, barrierefrei zu sein, sind es aber nicht. Vor Ort treffen Reisende wie Jonas Morgenroth dann nicht selten auf zu kleine Aufzüge und hilfloses Personal.

Zertifiziert barrierefrei mit "Reisen für Alle"

Rolf Schrader will hier Abhilfe schaffen. Er ist Geschäftsführer des Deutschen Seminars für Tourismus (DSFT) und leitet das Projekt "Reisen für Alle". Sein Berliner Verein prüft, schult und zertifiziert bundesweit einheitlich touristische Angebote für Menschen mit Behinderung. "Wir haben gesehen, dass eine Selbstauskunft nicht reicht", sagt Schrader im DW-Gespräch. Ein professionelles System ähnlich der Sterne-Bewertung bei Hotels müsse her, um Menschen mit Behinderung eine zuverlässige Orientierungshilfe bei der Reiseplanung zu geben. Außerdem soll die Zertifizierung auch Anreiz für Investitionen in Barrierefreiheit sein. "Wenn ein Hotel von uns zertifiziert ist, wird sich die Konkurrenz überlegen müssen, ob sie nicht nachzieht", sagt Schrader. Und tatsächlich: Das barrierefreie Reiseangebot wächst - und das, obwohl die Corona-Pandemie die Tourismusbranche so hart getroffen hat wie kaum eine andere.

Das Stadtschloss von Bernburg, im Vordergrund die Saale und ein Fahrgastschiff
Das Stadtschloss von Bernburg Bild: Ingo Gottlieb/Halle/Stadtinformation Bernburg

Welch positive Auswirkungen ein solches Zertifikat haben kann, sieht man in Bernburg. Im Juli wurde die Stadt an der Saale als siebter Ort in Deutschland und als erster in Sachsen-Anhalt vom DSFT als barrierefrei geprüfter Tourismusort ausgezeichnet. Ein Großteil der touristischen Angebote ist hier barrierefrei: Von der Jugendherberge über das Ausflugsschiff bis hin zum Stadtschloss. In Zusammenarbeit mit Behinderten- und Seniorenvertretern hat die Stadt jahrelang an der Barrierefreiheit der Stadt gearbeitet - und schaffte es auch, Privatunternehmen für das Projekt zu gewinnen. "Wir haben die Notwenigkeit gesehen, auf diese Zielgruppen verstärkt einzugehen", sagt Susan Rettig, stellvertretende Leiterin der Bernburger Stadtinformation. Dazu zählen in Bernburg nicht nur Menschen mit Behinderung. Auch Senioren und Familien mit kleinen Kindern würden von den barrierefreien Angeboten profitieren, sagt Rettig. "Diese Zielgruppen sind überall gefragt, es ist also hoffentlich nur eine Frage der Zeit bis andere Städte mitziehen".

Rolf Schrader träft einen Anzug und schaut direkt in die Kamera
Rolf Schrader vom Deutschen Seminar für TourismusBild: Rolf Schrader/DSFT

Doch Vorreiter wie Bernburg sind immer noch selten in Deutschland. Der zertifiziert barrierefreie Anteil am touristischen Gesamtangebot sei immer noch "verschwindend gering", sagt Rolf Schrader vom DSFT. "Weil es eben immer noch ein freiwilliges System ist und die Zertifizierung kostenpflichtig, erreichen wir viele nicht". Zudem läuft die Finanzierung des Projekts "Reisen für Alle" durch das Bundeswirtschaftsministerium im kommenden März aus. Sollte die Förderung bis dahin nicht verlängert werden, sei das laut Geschäftsführer Schrader "kritisch". Dann müsse das Projekt allein durch die Einnahmen aus Zertifizierungen und Schulungen gedeckt werden.

Barrierefreies Reisen im Ampel-Koalitionsvertrag: "Enttäuschend"

Einen großen Schritt nach vorne in Sachen Barrierefreiheit will die kommende Bundesregierung machen. So klingt es zumindest im jüngst veröffentlichten Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Barrierefreiheit soll in fast allen gesellschaftlichen Bereichen ausgebaut werden, von Sport über Kultur bis Verkehr. Ein ganzer Absatz steht dort zum Thema "Inklusion". Darin heißt es: "Wir wollen, dass Deutschland in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens, vor allem aber bei der Mobilität (u. a. bei der Deutschen Bahn), beim Wohnen, in der Gesundheit und im digitalen Bereich, barrierefrei wird." Dafür soll ein Bundesprogramm Barrierefreiheit eingesetzt werden.

Beim Unterpunkt "Tourismus" ist allerdings von Barrierefreiheit keine Rede. Volker Sieger von der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit findet das "enttäuschend". Ein ganzheitliches, inklusives Tourismuskonzept sei damit nicht in Aussicht. Das liege laut Sieger jedoch vor allem daran, dass Tourismus in der Zuständigkeit der Bundesländer liege. "Der Bund kann hier nur unterstützen, etwa mit der Förderung von einheitlicher Zertifizierung", so Sieger. "Es geht eben nur sehr langsam voran, wenn es von vielen verschiedenen Playern abhängt".

Jonas Morgenroth muss wohl also auch zukünftig lange nach passenden Angeboten suchen und im Zweifel mit Einschränkungen bei der Anreise und am Urlaubsort rechnen. Doch auch, wenn ihn vieles störe und er Hürden beseitigt sehen wolle, gehe mittlerweile auch vieles, sagt er. Er schwärmt von einer Wattwanderung an der Nordsee, die er mitmachen konnte, erzählt von seiner Reise nach Australien. Oft sei seine Behinderung kein großes Hindernis. "Ich mache alles, was andere Menschen auch machen, ich lebe ein ganz normales Leben - auch wenn es eben manchmal mit ein bisschen mehr Aufwand verbunden ist."