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Politik

USA: Virus öffnet Türen in der Arbeitswelt

Julia Mahncke USA
13. Mai 2020

Menschen mit Behinderungen, Kranke und Pendler in den USA sind froh, dass sie von zu Hause arbeiten dürfen. Viele ärgern sich, dass erst die Corona-Krise das Konzept "Arbeitsplatz" verändert hat. Julia Mahncke berichtet.

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Britney Wilson
Britney Wilson ist BürgerrechtsanwältinBild: Privat

In New York, im Stadtteil Brooklyn, arbeitet die Bürgerrechtsanwältin Britney Wilson - wie so viele andere, von zu Hause. Sie sieht es als Privileg. Denn diejenigen, die noch zur Arbeit müssen sind einem größeren Infektionsrisiko ausgesetzt. Und viele von ihnen gehören zu den Niedrigverdienern.

Britney Wilson wohnt in einem relativ ruhigen Straßenzug - im Gegensatz zu dem Ort, an dem sich ihr Büro befindet. Es liegt im Stadtteil Manhattan. Ihr Arbeitgeber ist das "National Center For Law and Economic Justice". Das Nationale Zentrum für Recht und wirtschaftliche Gerechtigkeit setzt sich insbesondere für finanzielle Gerechtigkeit ein. "Ich habe schon oft gedacht, ob es wirklich notwendig ist, dass ich jeden Tag ins Büro komme. Die letzten zwei Monate haben gezeigt: wahrscheinlich nicht", sagt Wilson im Gespräch mit der DW.

Die Anwältin ist aufgrund ihrer Zerebralparese (Bewegungsstörungen) auf einen speziellen Transportdienst der Stadt angewiesen. Bei optimalem Verkehr beträgt die reine Fahrtzeit ins Büro etwa eine Stunde. Auf den Shuttle-Service für Senioren und Menschen mit Behinderungen, "Access-a-ride", musste sie aber häufig lange warten. Und in einem Fahrzeug werden mitunter zwei bis drei Personen zu völlig unterschiedlich gelegenen Zielen gebracht. "Ich spare jetzt eine ganze Menge Zeit", sagt Wilson über die Arbeit von zu Hause. "Seit der Corona-Krise denken wir grundlegend anders über Arbeit und wie Arbeit strukturiert werden kann."

USA New York | Coronavirus | Brooklyn Bridge
Britney Wilson lebt in Brooklyn und arbeitet eigentlich in ManhattanBild: Reuters/L. Jackson

Plötzlich gibt es mehr Mitgefühl

Mitarbeiter, ob mit Einschränkung oder ohne, werden wohl auch nach dem Ende der Coronavirus-Krise häufiger von zu Hause arbeiten, um lange Arbeitswege zu vermeiden und dienstliche und private Termine besser miteinander vereinbaren zu können, meint Diane Hettinger. Sie ist Mitarbeiterin bei der Versicherungs- und Investfirma, Prudential Financial. Das Unternehmen gehört zu den 500 umsatzstärksten Unternehmen der Vereinigten Staate und steht deshalb auf der Liste "Fortune 500" des US-amerikanischen Magazins Fortune. Zurück zum normalen Alltag geht es voraussichtlich nicht. "Die Zeiten ändern sich. Unsere Leitung hat schon gesagt, dass es kein Zurück mehr gibt", sagt Hettinger der DW.

Sie selbst leitet seit fünf Jahren eine Abteilung, die individuelle Problemlösungen für Mitarbeiter erarbeitet. So kümmerte sie sich beispielsweise darum, dass Videos für Mitarbeiter untertitelt werden oder dass alle Gebäudeeingänge behindertengerecht sind. Seit dem Ausbruch von COVID-19 spürt Hettinger, dass viele Kollegen plötzlich mehr Hilfe brauchen, um mit der Technologie klarzukommen. Viele würden nun auch untereinander mehr Mitgefühl zeigen, wenn es Hürden im Arbeitsalltag gibt. "Alle in unserer Firma sind offener geworden und sehen, wie viel jeder leisten kann." Es werde in Zukunft wohl leichter sein, "individuellen Bedürfnissen entgegenzukommen".

Diane Hettinger
Diane Hettinger arbeitet bei Prudential FinancialBild: privat

Firmen haben kaum noch Argumente 

Selbst wenn eine Firma sich in Zukunft nicht von alleine flexibler zeigt, haben die Veränderungen durch COVID-19 Präzedenzfälle geschaffen. Anwalt Vincent White, der sich auf Diskriminierung am Arbeitsplatz spezialisiert hat, sagt: "Wir haben ja nun schon bewiesen, was wir vorher immer diskutieren mussten." Firmen würden sich daher ab jetzt schwer tun zu argumentieren, dass das Arbeiten von zu Hause nicht möglich sei.

Neben neuen Möglichkeiten für seine Klienten beschäftigt sich White derzeit auch mit neuen Herausforderungen, auf die es keine einfachen Antworten gibt: Was tun, wenn der Mitarbeiter betrunken oder bekifft zum Online-Meeting erscheint, wenn das Outfit unangebracht ist oder wenn sexuelle Belästigung im Büro nun zwar kein Thema mehr ist, dafür aber im Chat stattfindet?

Alles eine Sache der Einstellung

Aber die Coronavirus-Krise erschwert natürlich auch vielen den Alltag - denen, die gar keine Arbeit haben oder sie durch die Krise verloren haben. Aber auch für Menschen mit Behinderung oder Krankheit ist vieles schwieriger, wenn sie auf Dienstleistungen und medizinische Versorgung angewiesen sind und die derzeit zum Stillstand gekommen ist.

Dennoch ist es ein kleiner Lichtblick, dass die derzeitige Krise Firmen dazu zwingt, das Konzept des "Arbeitsplatzes" zu überdenken. Auf einmal ist eine Flexibilität vorhanden, die etwa der "Americans with Disabilities Act (ADA)", ein seit 30 Jahren bestehender Gesetzeskatalog gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, nicht hervorbringen konnte.

Charles-Edouard Catherine
Charles-Edouard Catherine ist blind und sagt, das Arbeiten von zu Hause sei gar kein ProblemBild: privat

"Wir haben bewiesen, dass wir unsere Gewohnheiten ändern können. Wir können mehr auf die Bedürfnisse von Mitarbeitern eingehen, als gedacht", resümiert Charles-Edouard Catherine, Assistent des Direktors der National Organization on Disability (NOD).

Catherine, gebürtiger Franzose, lebt mit seiner Partnerin in New York. Er ist blind und navigiert in der Stadt häufig durch Tasten, was durch die Hygienevorkehrungen erschwert wird. Beim Arbeitsalltag hat sich hingegen nicht viel für ihn verändert, sagt er. "Es war wirklich nicht so schwierig. Ich habe einfach meinen Laptop mit nach Hause genommen." Die größte Hürde in der Arbeitswelt für Menschen mit Behinderungen sei die Jobsuche selbst, nicht das eigentliche Arbeiten.