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Gesellschaft

USA: HIV-Epidemie in Cabell County

Doris Pundy
30. September 2019

West Virginia führte 2017 die US-Statistik der tödlichen Drogen-Überdosen an. Heute ist der Bundesstaat Schauplatz des jüngsten HIV-Ausbruchs. Örtliche Akteure denken trotzdem nicht ans Aufgeben.

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USA Huntington, West Virginia | Spritzen, Gesundheitsbehörde
Bild: DW/D. Pundy

Michael Kilkenny sucht mit Nachdruck nach jenen Menschen, die sich in den letzten Monaten in seinem Landkreis Cabell County mit HIV angesteckt haben. Er und sein Team fragen jeden, der positiv getestet wird, mit wem er oder sie Sex hatte und Spritzen teilte. Dann untersuchen sie die Nahestehenden.

Jedes Mal müssen sie Tage auf die Testergebnisse warten. Die Zeit drängt. Bleibt eine HIV-Infektion unbemerkt, breitet sich die Krankheit weiter aus. Bleibt sie unbehandelt, kann sie akut und somit tödlich werden.

"Nur wenn wir wirklich alle Infizierten finden und sie behandeln, können wir den Ausbruch stoppen", sagt Kilkenny, der die lokale Gesundheitsbehörde leitet.

Cabell County mit seiner Kreisstadt Huntington liegt im äußersten Westen West Virginias, sieben Autostunden von Washington D.C. entfernt. 80 Personen hat Kilkenny seit Anfang 2018 positiv getestet. Wöchentlich kommen neue Fälle hinzu. Laut Experten ist das nur "die Spitze des Eisbergs". Nahezu alle Infizierten sind suchtkrank und spritzen ihre Drogen. Vor dem Ausbruch gab es in Cabell County jährlich nur eine Handvoll HIV-Fälle.

USA Huntington, West Virginia | Michael Kilkenny, Leiter Gesundheitsbehörde
Michael Kilkenny versucht den größten HIV-Ausbruch, den es in West Virginia je gab, unter Kontrolle zu bekommenBild: DW/D. Pundy

Opiumkrise nach Wirtschaftskrise

An der Einfahrt ins Stadtzentrum von Huntington steht das Stahlwerk "Steel of West Virginia". Die mächtigen Außenmauern sind dunkelbraun. Was davon Rost und was Schmutz ist, lässt sich kaum erkennen. Der Parkplatz vor dem Werk ist fast leer. Bis in die 1970er Jahre war Huntington mit seinen 50.000 Einwohnern ein regionales Industrie- und Handelszentrum in einer sonst extrem ländlichen Region. Bodenschätze wie Kohle und Eisen machten reich. Heute ist die Stadt vor allem für ihr Drogenproblem bekannt.

Opiumhaltige Schmerzmittel waren hier, wo die besser bezahlten Jobs lange Zeit mit schweren körperliche Tätigkeiten verbunden waren, schon vergleichsweise früh verbreitet. Die aggressive Vermarktung der Pillen durch Pharmafirmen ab den 1990er Jahren machten sie allgegenwärtig. Seit dem wirtschaftlichen Niedergang stillt Opium nicht nur physische Schmerzen. Fast jeder Zehnte hier ist nach offiziellen Schätzungen heute abhängig. Ein Viertel davon spritzt sich die Drogen und ist somit besonders gefährdet für Infektionskrankheiten.

USA Huntington, West Virginia | Stahlwerk Steel of West Virginia
Das Stahlwerk erinnert an wirtschaftlich bessere Zeiten. Heute ist das Bruttoinlandsprodukt West Virginias vergleichbar mit jenem VenezuelasBild: DW/D. Pundy

2015 landete Cabell County auf einer landesweiten Liste des US-Gesundheitsinstituts mit jenen Landkreisen, wo das Risiko eines HIV-Ausbruchs besonders hoch ist. Michael Kilkenny tat daraufhin alles, was sein knappes Budget zuließ, um das zu verhindern. Er startete Informationskampagnen und schaffte mehr Therapieplätze. Zusätzlich können Suchtkranke in Kilkennys Behörde seither gebrauchte Spritzen gegen neue eintauschen. Und trotzdem: "Wir mussten feststellen, dass neue Spritzen einen HIV-Ausbruch genauso wenig verhindern kann, wie ein Sitzgurt einen Autounfall", sagt der Mediziner resignierend.

Umstrittener Spritzentausch

Das Präventionsprogramm gerät immer wieder in die Kritik, Drogenkonsum in erster Linie zu fördern, statt ihn sicherer zu machen. Ein ähnliches Programm wurde in einem nahegelegenen Landkreis nach Protesten eingestellt. Michael Kilkenny hält trotzdem daran fest. Selbst wenn es den Ausbruch nicht verhindern konnte, würden die sauberen Spritzen helfen, die Anzahl der Infektionen möglichst gering zu halten, ist er überzeugt.

USA Huntington, West Virginia | saubere Spritzen, Gesundheitsbehörde
Suchtkranke können gebrauchte Spritzen gegen Pakete mit sauberen Spritzen und Desinfektionstüchern eintauschenBild: DW/D. Pundy

"West Virginia war immer ein Staat, in dem es nur sehr wenige HIV-Fälle gab. Die Leute haben die Gefahr verschlafen", sagt Judith Feinberg, Professorin für Medizin an der West Virginia University. Auch seien sich viele Menschen, Ärzte wie Bewohner, nicht bewusst, dass HIV in West Virginia zum Problem geworden ist. Deshalb würden nicht genügend Menschen auf den Virus getestet werden.

Auf der schwarzen Liste gelandet

Michael Kilkenny lässt diese Kritik für seinen Landkreis nicht gelten. Zwar hatte HIV tatsächlich bis 2015 keine Priorität, sagt er. Seitdem Cabell County auf der schwarzen Liste des US-Gesundheitsinstituts gelandet war, habe sich das aber geändert. Und seit dem Beginn des HIV-Ausbruchs würde seine Behörde alles unternehmen, um vor allem Suchtkranke zu testen. Um an diese Menschen heranzukommen, setzt der Mediziner auf die Zusammenarbeit mit lokalen Sozialarbeitern.

Kilkennys Büro ist wenige Gehminuten von Amanda Colemans Arbeitsplatz entfernt. Dazwischen liegt das Bezirksgericht. Mit seiner goldenen Kuppel sticht es heraus. Das restliche Stadtzentrum ist eine Mischung aus schlecht erhaltenen Backsteingebäuden und schmucklosen Nachkriegsbauten. Viele Läden stehen leer. In den Hauseingängen liegt Müll. Uringeruch sticht in der Nase.

"Ich muss Hoffnung haben"

Coleman leitet das "Harmony House", eine Einrichtung für Obdachlose. Hier können Wohnungslose den Tag verbringen, duschen und erhalten Hilfe bei der Wohnungsvermittlung. Dutzende Menschen tummeln sich auf dem schmalen Gehweg vor dem Eingang. Es ist ungewöhnlich warm für Ende September. Über die Hälfte all jener, die sich seit Anfang 2018 in Cabell County mit HIV angesteckt haben, hat keinen festen Wohnsitz.

USA Huntington, West Virginia | Sozialarbeiterin Amanda Coleman
Amanda Coleman: "Wir arbeiten hart daran, dass sich unsere Klienten bei uns wohl fühlen und uns vertrauen"Bild: DW/D. Pundy

Bislang muss Coleman ihre Klienten zum HIV-Test zu Kilkenny schicken oder externes Personal kommen lassen. Jetzt lässt sie drei Mitarbeiter schulen, damit die Untersuchungen vor Ort gemacht werden können. "Ich glaube, wir haben bessere Chancen, mehr Menschen davon zu überzeugen, sich testen zu lassen, wenn der HIV-Test teil eines Gesprächs sein kann." Das Stigma rund um die Krankheit wäre in den letzten Jahren zwar kleiner geworden, zu wenig Wissen über die Krankheit und Behandlungsmöglichkeiten gäbe es aber weiterhin, sagt sie.

Universitätsprofessoren Judith Feinberg befürchtet, dass trotz aller Bemühungen bislang nur ein Bruchteil aller Infizierten gefunden wurde und in Behandlung ist. Sie sagt, das Ausmaß des HIV-Ausbruchs in Cabell County und den umliegenden Landkreisen lasse sich noch gar nicht abschätzen.

"Ich kann nicht sagen, wie viele HIV-Infektionen es am Ende sein werden", sagt der Mediziner. "Ich hoffe, dass es nicht mehr als die achtzig werden. Aber als wir 79 Fälle hatten, habe ich gehofft, es werden nicht mehr als 79", schiebt er nach. Und trotzdem sei er zuversichtlich, quasi aus Dienstpflicht: "Ich muss Hoffnung haben, um meinen Job weiter machen zu können."