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Drakonische Strafen in USA

Antje Passenheim, Washington1. Dezember 2013

Sie stahlen Babynahrung, eine Jacke oder eine Flasche Propangas - für Bagatelldelikte wie diese büßen Tausende Menschen in den USA lebenslänglich. Bürgerrechtler fordern: Ändert die Gesetze!

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Mann in Haft
Bild: Fotolia/jtanki

"Sie sperren ihn weg wie einen Schwerverbrecher!" 13 Jahre lang lebt Judith Minor schon mit diesem Gedanken. Er quält sie, seit ihr Sohn Ricky für immer im Yazoo City Gefängnis in Mississippi hinter Gittern verschwand. Weil er Drogen im Wert von einer Handvoll Dollar besaß. "Lebenslang ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung", so der Richterspruch, der für die 76-jährige jenseits jeder Vorstellung ist.

Für das US-Justizsystem jedoch ist der Fall keine Ausnahme: Mal waren es ein paar Socken, mal eine Scheibe Pizza. Viele kleine Diebe zahlten dafür schon in den USA mit einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Ricky Minors Verbrechen bestand darin, ein Gramm der Droge Methamphetamin zu besitzen. Er ist nur einer von rund 3300 Menschen, die im Land der Freiheit für gewaltfreie Bagatelldelikte lebenslängliche Haftstrafen verbüßen, ohne dass sie die Chance einer vorzeitigen Entlassung haben.

"Es gibt Fälle, in denen Menschen zu einem Leben hinter Gittern verurteilt werden, weil sie vielleicht drei Gürtel aus dem Geschäft, Babynahrung oder eine Flasche Propangas geklaut haben oder weil sie Drogen im Wert von zehn Dollar besitzen", so Jennifer Turner von der Menschenrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU). "Und es gibt Zehntausende weiterer Fälle, in denen Menschen wissen, dass sie hinter Gittern sterben werden, weil sie zu derart überzogenen Strafen verdonnert wurden, dass sie keine Chance mehr darauf haben, zu Lebzeiten entlassen zu werden", sagt Turner. In ihrem Bericht "A Living Death", schlagen Turner und andere ACLU-Aktivisten Alarm wegen dieser Zustände.

Portraitbild einer Frau Copyright: ACLU, New York, Nov. 2013
Menschenrechtlerin Jennifer TurnerBild: ACLU

"Sie sind das Resultat von Gesetzen, die in den vergangenen 40 Jahren im Zuge des Kampfs gegen Drogen und sonstige Kriminalität bundesweit oder in einzelnen Staaten eingeführt oder verschärft wurden", so die Rechtsexpertin.

"Three Strikes" - und Du bist weg

Diese Gesetze schreiben zum Teil drakonische Strafen bei Bagatelldelikten vor. In einigen Staaten - etwa in Louisiana oder Florida - wird nach dem sogenannten Three Strikes Law jeder automatisch bis zu seinem Tod weggesperrt, der zum dritten Mal verurteilt wird. "Auch, wenn die erste dieser Straftaten noch so klein ist, 30 Jahre zurückliegt oder die Täter sie als Kinder oder Jugendliche verübt haben", sagt Turner der DW.

Sie berichtet vom Fall eines Mannes, der zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde, weil er schon mit 16 beim Klauen erwischt worden war. "Er wurde nun zu lebenslänglich verurteilt, weil er das Gewehr seines Stiefvaters gestohlen hatte. Der wiederum hatte damit gedroht, mit eben diesem Gewehr die Mutter des Mannes zu erschießen." Der Stiefvater kam ungeschoren davon.

Ein anderer Mann wanderte für den Rest seines Lebens hinter Gitter, weil er eine Lederjacke im Wert von 150 Dollar stehlen wollte. "Diese Urteile sind einfach grotesk und sie stehen in keinem Verhältnis zu den Straftaten", meint Turner. Damit steht sie nicht allein:

"Du hast die Strafe nicht verdient - aber meine Hände sind gebunden, denn ich habe keine wirkliche Kontrolle über das Strafmaß", habe Rickys Richter gesagt. Judith hört es förmlich noch. "Es hielt mich kaum auf meinem Stuhl", sagt sie der DW. "Ich traute meinen Ohren nicht."

Mann mit Frau an einem Tisch Copyright: ACLU
Ricky Minor, hier mit seiner Tochter Heather, ist Opfer des "Three Strikes" GesetzBild: ACLU

Zwang der Gesetze

Doch der Richter hatte recht: Das Gesetz war bindend, ein wirkliches Urteil nicht gefragt, meint Turner. "Die Richter können oft nicht tun, was eigentlich ihre Aufgabe wäre", sagt die ACLU-Aktivistin. "Nämlich zu urteilen und ein Strafmaß zu ermitteln, das der Tat angemessen ist. Statt dessen unterliegen sie diesen Gesetzen, die sie dazu zwingen, die Täter wegzuschließen und den Schlüssel für immer fortzuwerfen." Sie sei im Zuge ihrer Studien auf mehrere Juristen gestoßen, die gesagt haben "Ich bin mit dem Urteil nicht einverstanden - als Richter, als Bürger und als Steuerzahler."

Rund 1,8 Milliarden Dollar Steuern verschlingt die umstrittene Rechtspraxis im Jahr. "Ich glaube, vielen der Wähler, die diese Gesetze unterstützt und vielen der Politiker, die sie verabschiedet haben, war gar nicht klar, dass da Menschen lebenslang hinter Gittern verschwinden würden, weil sie eine Jacke geklaut haben", so Turner. Woche für Woche würden solche Urteile gefällt. "Ein Richter sollte die Freiheit haben, eine lebenslängliche Strafe nicht zu geben", sagt auch Burl Cain, Aufseher im Staatsgefängnis "Angola" von Louisiana. Das hätten die Gründerväter nicht im Sinn gehabt, als sie die Verfassung schrieben. "Es ist extrem. Es ist grausam und absurd."

Teufelskreis

Betroffen sind vor allem Schwarze. Landesweit seien 65 Prozent der Fälle Afroamerikaner. In Südstaaten wie Louisiana seien es sogar 91 Prozent der Fälle, so die Studie der ACLU. "Lediglich fünf Prozent der Weltbevölkerung lebt in den USA", sagt Turner. "Aber wir stellen 20 Prozent aller Häftlinge weltweit." Kein Wunder, dass die Bundesgefängnisse mit 40 Prozent Überbelegung aus allen Nähten platzen.

Gefängnisinsassen an ihren Betten
Durch die Gesetzgebung sind viele Gefängnisse hoffnungslos überfülltBild: picture alliance/AP Photo

"Ein Teufelskreis aus Armut, Kriminalität und Inhaftierung hält zu viele Amerikaner gefangen und schwächt zu viele Kommunen", erklärte Justizminister Eric Holder, als er jüngst eine Justizreform ankündigte. Sie soll dafür sorgen, dass inhaftierte Kleinkriminelle mit Drogendelikten entlassen werden. Ein guter Anfang, meint Turner, doch nicht genug. ACLU will nun den Kongress anstoßen, die strittigen Gesetze zu kippen. Eine entsprechende Petition an Präsident Barack Obama ist in der Mache.

Für die 76-jährige Judith Minor und ihren Mann ist es ein Wettlauf gegen die Zeit. Ihr Sohn habe im Gefängnis alles getan, um sich weiterzubilden und auf einen neuen Anfang vorzubereiten, sagt sie. Wenn sie ihn in seinem Gefängnis in Yazoo City besuche, träume er oft davon, im Freien unter Bäumen zu stehen und seinen Hund zu streicheln. "Er ist reif, nach Hause zu kommen", so Judith Minor. "Er sehnt sich nach dem Tag. Wir hoffen, dass wir ihn noch erleben."