1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

USA = Wettbewerb

29. Januar 2010

Wer der Welt Amerika erklären will, braucht eigentlich nur einen Begriff: Wettbewerb. Damit hat man alles Wesentliche in diesem Land auf den Punkt gebracht.

https://p.dw.com/p/LjuI
Fernschreiber (Quelle: DW)
Bild: DW

In den USA geht es immer nur darum, reicher, schöner, klüger, schneller oder einfach nur besser zu sein. Sicher: auf Dauer kann das ganz schön anstrengend sein. Doch die Amerikaner haben sich daran gewöhnt. Der Wettbewerb wird überall und in jeder Lebenslage betrieben. Schließlich macht nur die Übung den Meister.

Nehmen wir als Beispiel den New Yorker Hauptbahnhof, die berühmte Penn Station. Wer die Eingangshalle betritt, sieht dort Hunderte von Menschen, die manchmal eine halbe Stunde auf eine riesige Anzeigetafel starren, so als ob dort die Lotterie-Zahlen der kommenden Woche stünden. Dabei verrät die Tafel nur, ob die Züge pünktlich sind oder nicht. Sie zeigt noch nicht einmal an, von welchem der vielen Dutzend Gleise der gewünschte Zug seine Reise beginnt.

Sitzplatz ergattert?

Erst wenige Minuten vor der Abfahrt erscheint auf der Tafel die Nummer mit dem Gleis. Dann rennen, ach was: stürzen Hunderte von müden Pendlern in die Richtung des angegebenen Gleises, immer darum bemüht, nicht als letzter in den Zug zu steigen. Denn Sitzplätze sind auch in der amerikanischen Eisenbahn begrenzt. Wer einen Sitzplatz ergattert, hat den Wettbewerb erfolgreich bestanden. Die anderen müssen weiter üben, sprich: beim nächsten Mal ihre strategische Positionierung vor der Anzeigetafel überdenken. Jeder Pendler hat Tag für Tag die Möglichkeit, sich im Wettbewerb zu behaupten.

Miodrag Soric (Foto: DW)
Wundert sich: Miodrag SoricBild: DW

Ein Europäer kann bei diesem Schauspiel gar nicht anders als ins Grübeln kommen. Bestimmt hockt irgendwo ein Bahnhofsvorsteher, der sich einen riesigen Spaß daraus macht, den Menschenpulk der Reisenden mal in die eine, mal in die andere Richtung zu scheuchen. Ganz bestimmt sitzt da jemand vor einem Computer und überlegt sich, welchem Zug er denn heute welches Gleis zuordnet. Dann wirft er einen verschmitzen Blick in die Bahnhofshalle und lacht teuflisch, wenn Berufspendler, Mütter mit Kindern oder Rentner in die Richtung jagen, die er ihnen vorgibt.

Irritierende Ordnung

In Deutschland sind den verschiedenen Zügen schon vor Jahrzehnten bestimmte Gleise zugeordnet worden. Wenn sich - aus welchen widrigen Gründen auch immer - an dieser heiligen Gewohnheit etwas ändert, bombardieren ungehaltene Bahnkunden das Management der Deutschen Bahn mit Protestbriefen. So viel Ordnung und Tradition würde die Amerikaner irritieren. Sie brauchen einfach den Wettbewerb.

Das Rumlungern der Massen vor der Anzeigetafel auf dem New Yorker Hauptbahnhof verbindet und trennt die Menschen gleichermaßen. Sie sind einerseits Konkurrenten beim Kampf um die Sitzplätze in den Zügen. Sie verbindet aber auch andererseits der Wettbewerb. Sie alle spüren gemeinsam die Ohnmacht vor der Anzeigetafel, auf die sie ihre Blicke richten. Sie alle hoffen, dass der Zug überhaupt fährt. Sie alle empfinden das Glück, endlich die Bahnhofshalle verlassen zu dürfen.

Autor: Miodrag Soric
Redaktion: Christian Walz