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Hüne von Hanoi

9. September 2010

8792 Punkte sammelte der frühere DDR-Zehnkämpfer Uwe Freimuth bei seinem besten Wettkampf. Nur sieben Athleten weltweit übertrafen bisher diese Leistung. Heute berät und trainiert der 49-Jährige Vietnams Leichtathleten.

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Uwe Freimuth beim Amtsantritt in Vietnam. Foto: Privatarchiv Uwe Freimuth
Uwe Freimuth in VietnamBild: Privatarchiv U.Freimuth

Wenn Uwe Freimuth Hunger hatte, bestellte er ein Steak – eines, das 1000 Gramm wog. Zumindest war das früher so, denn nun lebt Freimuth in einem Land, in dem die Menschen Reis aus kleinen Schälchen essen. Den 49-Jährigen hat es nach Vietnam verschlagen. Er berät als von Deutschland bezahlter Entwicklungsexperte die vietnamesischen Leichtathleten und ist dabei von allem ein bisschen: Trainer und technischer Leiter, Sportdirektor und Symbolfigur. Vietnams Leichtathleten sind so ehrgeizig wie ihr boomendes Land – und wer könnte ihnen bei ihren Plänen besser helfen als ein sportverrückter Vollprofi, der gleich zehn Disziplinen beherrscht?

Elf Disziplinen, zehn Mal Gold

Freimuth erzählt, wie er als Junge aus Rathenow bei Berlin bei der Kreis-Kinder- und Jugendspartakiade startete, einem Sportwettkampf der Schüler in der DDR. Er trat in elf Disziplinen an – zehn Mal Gold, einmal Silber. Da lag es nahe, Zehnkämpfer zu werden, der vielgerühmte "König der Athleten". Freimuth war 13 Jahre alt, als er sein Leben dem Sport verschrieb und zur Ausbildung nach Brandenburg an der Havel und Potsdam ging, Hochburgen der systematischen DDR-Sportförderung. Drei Jahrzehnte später dreht sich in seinem Leben wieder alles um Ausbildung – diesmal allerdings steht er auf der anderen Seite.

Freimuth beim Sprungtraining. Foto: Hendrik Heinze
"Nicht wie ein Elefant"- Freimuth (l.) beim Sprungtraining mit vietnamesischen LeichtathletenBild: DW

Ein Brustkorb wie zwei Vietnamesen

Ein Wald aus gelben Plastikstangen. Einige ragen in die Höhe wie dünne Baumstämme, andere sind in einem Meter Höhe waagerecht an ihnen befestigt. Wie Hürden stehen die Plastikgestelle hintereinander. Ein Athlet nimmt Anlauf und springt mit beiden Füßen zugleich über die Hindernisse. Uwe Freimuth schüttelt den Kopf. "Nicht wie ein Elefant", ruft er in englischer Sprache. "Ihr müsst schneller wieder vom Boden wegkommen.Tap, tap, tapp!" Dabei gestikuliert er mit seinen großen Händen, die zu seinen Hochzeiten einen Speer mehr als 70 Meter weit schleudern konnten. Wenn sich zwei seiner Sprinter umarmen würden, ihr Brustumfang wäre wohl immer noch geringer als der des Brandenburger Hünen.

Leistung beginnt im Kopf

Freimuth zeigt seinen Schülern den Umgang mit einem Trainings-Gummiband. Foto: Hendrik Heinze
Muskeltraining mit GummibandBild: DW

Sportler wissen meist, warum sie verloren haben. Freimuth aber ist Analytiker: Er findet die Frage viel aufschlussreicher, warum ein Athlet gewinnt. Noch tun das seine Schützlinge nicht sehr häufig, aber mit einer systematischen Ausbildung sieht er gute Chancen für sie, bei Asien- und Südostasien-Spielen mitzuhalten. "Als ich 1974 mit dem Sport begann, hatten wir auch nichts", erzählt er. "Wir hatten nur eine einfache Turnhalle, das meiste haben wir draußen gemacht. Erfolg hängt nicht nur von der Ausstattung mit Geld und Geräten ab – der Leistungsgedanke fängt im Kopf an. Das will ich vermitteln, und das geht auch, weil wir die gleiche Sprache sprechen: nicht Vietnamesisch, sondern die Sprache des Sports.“ Freimuths Erscheinung kann einen jungen Sportler einschüchtern, aber seine Botschaft ist eine andere. Er sagt nicht: Ihr werdet keine Weltmeister, versucht es erst gar nicht! Er sagt: Ihr könnt mit Hingabe und gelben Plastikstangen viel erreichen.

Bei Olympia gewannen andere

Auch Uwe Freimuth hätte viel erreichen können. Der Sohn eines Eisenbahners und einer Köchin aus Rathenow war der hellste Stern am DDR-Zehnkampf-Himmel, mehr Punkte als er schaffte niemand. Dass er dennoch ohne einen großen Titel verglühte, hat Gründe.

Freimuth beim Stabhochsprung. Foto: Privatarchiv Uwe Freimuth.
Freimuth zu seiner sportlichen GlanzzeitBild: Privatarchiv U.Freimuth

Am 21. Juli 1984 macht der damals 22-jährige Freimuth den Wettkampf seines Lebens, springt 7,79 Meter weit und meistert im Stabhochsprung 5,15 Meter. 8792 Punkte, das hätte noch 2009 für den Weltmeistertitel gereicht. Eine Woche nach Freimuths Fabelwettkampf beginnen in Los Angeles die Olympischen Spiele – ohne ihn. Die DDR boykottiert wie alle Bruderstaaten der Sowjetunion die Spiele, so wie es vier Jahre zuvor die USA und deren Verbündete mit den Spielen in Moskau taten.

1986 überwirft sich Freimuth mit der DDR-Sportführung, nach eigener Aussage, weil er gegen das Dopingsystem aufbegehrt. Die WM 1987 und Olympia 1988 finden ohne ihn statt. Kurz vor den Spielen in Seoul stolpert er als Nachrücker in den Kader und belegt einen enttäuschenden 18. Platz.

"Der Oberindianer hat immer recht"

Uwe Freimuth mit Schülern in Vietnam. Foto: Hendrik Heinze
Freimuth mit Schülern in HanoiBild: DW

Natürlich hadert Freimuth mit den verpassten Chancen – aber brechen ließ er sich davon nicht. Er promovierte und forschte über Sportschulen, entwickelte ein Onlinesystem zur Trainingsanalyse, lehrte an der Universität Würzburg und trainierte in Bayern und Malaysia. Vietnam habe schon lange ein Auge auf ihn geworfen, erzählt er. 2009 sagte Freimuth schließlich zu. Für ihn sprach neben seinen sportlichen Verdiensten auch, dass er sich in zwei komplexen Gesellschaftssystemen auskannte: In Asien und im – auch in Vietnam praktizierten – Sozialismus. "Die Hierarchie hier ist ganz anders als in der DDR, aber die unterscheiden sich ja vom Grundsatz her nicht“, sagt Freimuth. "Der Oberindianer hat immer recht. Alle wussten, dass es nur rechtsrum gehen kann, und der Oberindianer hat trotzdem ‚linksrum' gesagt. Du musst diesem Mann aber trotzdem beibringen, dass tatsächlich rechts der Weg ist. Und nun musst du überlegen, wie kriegst du das hin, dass er sein Gesicht nicht verliert?“

Angeln mit Bissanzeiger

Vietnam ist eine Herausforderung für Freimuth, und so wechseln sich die glücklichen Momente auf dem Sportplatz ab mit solchen, in denen alles einfach nur sehr anstrengend ist: die Hitze, die oft nicht einfach durchschaubare Kommunikation, das Leben im Hotel. In diesen Spätsommermonaten fährt Freimuth nach Europa, um sein schweres Motorrad auszufahren und "Kraft für weitere zwölf Monate zu tanken“. Dann schaltet er ab, und einmal in seinem Leben spielen gelbe Plastikstangen und Oberindianer nicht die Hauptrolle. "Ein ruhiger See, klares Wasser und Angeln mit Bissanzeiger!", meint Freimuth sehnsüchtig. "So wird das laufen."

Autor: Hendrik Heinze
Redaktion: Stefan Nestler