1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg

3. April 2010

Wer hat den Massenmord an mehr als 20.000 Polen im Wald von Katyn angeordnet? Während des Zweiten Weltkriegs haben sich Hitler und Stalin das Massaker gegenseitig in die Schuhe geschoben.

https://p.dw.com/p/MmFe
Menschen an einem der freigelegten Massengräber von Katyn. (Foto: dpa)
Bild: picture alliance/dpa

Im Frühjahr 1943 entdeckt eine deutsche Einheit im Wald nahe des kleinen Ortes Katyn in der Nähe der weißrussischen Stadt Smolensk ein Massengrab. Hier sind Tausende Leichen verscharrt worden. Es sind polnische Offiziere, alle mit einem gezielten Genickschuss getötet. Wie lange die Leichen dort schon liegen, bekommen die Deutschen schnell heraus: Einheimische erzählen von einem Massaker, das im April 1940 dort in den Wäldern stattgefunden haben muss. Die Mörder seien Sowjets gewesen, die die Offiziere aus dem von ihnen besetzten Teil Polens hierher verschleppt haben. Die Nazis reiben sich die Hände – das ist ein wunderbares Propagandamittel gegen die Sowjets, mit denen Deutschland seit 1941 im Krieg liegt. Denn dieses Massaker wirft erstens international kein gutes Licht auf die Sowjetunion – und zweitens können die Nazis das Verbrechen dazu nutzen, den Polen noch mal unmissverständlich klar zu machen, dass sie sich im Falle des Widerstands sicherlich nicht auf die Sowjets verlassen können.

Deutsche und damalige alliierte Offiziere begutachten eines der Gräber (Foto: ap)
Die Expertenkommission an einem der GräberBild: AP

Um das Verbrechen wirksam in Szene zu setzen, holen die Deutschen forensische Experten nach Katyn, die anhand von stichhaltigen Indizien bestätigen, dass die Todeszeit der Opfer im Frühling 1940 war: Zwischen den Leichen werden Papiere, Tagebücher und Briefe entdeckt, die keinen Zweifel daran lassen, dass diese Menschen zum fraglichen Zeitpunkt umgebracht worden sind.

Manipulation von Beweisen

Doch die Sowjets wollen das nicht auf sich beruhen lassen. Die Gelegenheit zur Gegendarstellung kommt noch im gleichen Jahr. Ende 1943 nämlich werden die Deutschen nach Westen zurückgedrängt - und so können die Sowjets ihrerseits Experten einberufen, die das Datum des Todeszeitpunkts der Opfer nach hinten korrigieren. So sollen die Massenmorde erst Ende 1941 stattgefunden haben – kurz nachdem die Deutschen die russischen Streitkräfte im Rahmen des Russlandfeldzugs aus Polen herausgedrängt hatten. Zu den Vorwürfen der Deutschen sagt die Führung in Moskau lapidar, die Nazis wollten doch nur von ihren eigenen Verbrechen ablenken.

Ein beschuldigter deutscher Offizier legt einen Eid ab (Foto: ap)
Ein Wehrmachtsoffizier beteuert seine Unschuld vor GerichtBild: AP

Nach Kriegsende werden sogar zehn deutsche Kriegsgefangene für ihre mutmaßliche Beteiligung an dem Massaker von der sowjetischen Justiz verurteilt – sieben von ihnen zum Tode und die anderen drei zu je 20 Jahren Zwangsarbeit.

Fokus lag auf deutschen Kriegsverbrechen

Nach der Kapitulation des Dritten Reiches blickt die Weltöffentlichkeit natürlich auf die Verlierer des Krieges – wie kann man die Deutschen für ihre maßlosen Kriegsverbrechen zur Verantwortung ziehen? Angesichts von immer mehr Gräueln, die aufgedeckt werden, des millionenfachen Leids, das von den Nazis ausgegangen war, entgeht die Klärung des Massakers von Katyn der Aufmerksamkeit. Auch bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen fallen die ungeklärten Vorgänge in Katyn eher unter den Tisch – und die sowjetische Version der Vorfälle wird weitgehend akzeptiert.

Michail Gorbatschow 1989 (Foto: DW)
Michail Gorbatschow 1989Bild: DW

Schuldfrage erst Jahrzehnte später geklärt

Bis Michail Gorbatschow in den 80er Jahren im Zuge seiner Perestroika dafür sorgt, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Er gibt zum ersten Mal offen die Alleinschuld der Sowjetunion an dem Massaker zu. Den letzten Schritt tut sein Nachfolger Boris Jelzin, der 1992 die Akte herausgibt, die den sowjetischen Befehl zur Massenexekution von “Nationalisten und konterrevolutionären Aktivisten” enthält. 1940 war sie von Stalin persönlich ausgestellt worden; mit unterschrieben hatten außerdem der Leiter der damaligen russischen Geheimpolizei NKDW, Lawrenti Beria, und weitere hohe Mitglieder des Politbüros. Das Ziel der Sowjets war den deutschen Zielen nicht unähnlich: Die Zerschlagung Polens durch Vernichtung der „Klugen Köpfe“: der militärischen Führungskräfte und der intellektuellen Elite. Ganz klar ist die Zahl der Opfer bis heute nicht – doch die meisten Quellen sprechen von mehr als 22.000 Menschen, die vor 70 Jahren in Katyn hingerichtet worden sind.

Autorin: Silke Wünsch
Redaktion: Hartmut Lüning