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Politik

Berichten Medien noch über das Wichtige?

Jefferson Chase
23. Juli 2018

Neueste Umfragen sagen: Die Flüchtlingsfrage ist nicht das Thema, das die meisten Deutschen besorgt. Warum haben Journalisten und Politiker es dann so hochgespielt? Ein analytischer Blick von Jefferson Chase.

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Immer Bunter - Einwanderungsland Deutschland (Bildergalerie)
Bild: DW/J. Hennig

Dieses Umfrage-Ergebnis sollte Journalisten und anderen Akteuren im politischen Berlin zu denken geben: Die Deutschen sind vor allem besorgt über die wachsende Altersarmut und darüber, ob es noch bezahlbare Wohnungen in Großstädten gibt.

Das ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts "Emnid" im Auftrag für die Zeitung "Bild am Sonntag". Die Befragten sollten aus einer Liste von 20 politischen Themen ihre größten Sorgen auswählen. Das Thema Flucht und Migration landete abgeschlagen auf Rang 13.

AfD wird extrem überbewertet

Schon vor der Bundestagswahl im vergangenen Herbst, bei der die "Alternative für Deutschland" (AfD) 12,6 Prozent der Stimmen holte, waren viele Journalisten besorgt über die Aufmerksamkeit für die Rechtspopulisten und ihr großes Thema Migration. "Wenn es richtig ist, dass die AfD eine Zehn-Prozent-Partei ist, dann berichten wir über diese Partei, als wäre sie eine 40-Prozent-Partei", beklagt Lutz Kinkel, ein früherer Reporter des Magazins "Stern" in einer vielbeachteten Dokumentation.

Infografik Die Prioritäten der Deutschen DE

Eine Selbstanalyse

Ich wollte das anhand meiner eigenen journalistischen Arbeit hinterfragen. Habe ich ausgewogen berichtet? Ich habe meine letzten 100 Online-Artikel geprüft und festgestellt: Auch ohne die verwandten Themen Terrorismus und Verbrechen handelten 28 meiner Geschichten von Zuwanderung, Asyl oder eben von der AfD.

Das war zu erwarten. Tatsächlich hat im vergangenen Jahr eine Untersuchung ergeben, dass führende deutsche Medien täglich bis zu 17 Geschichten über die so genannte "Flüchtlingskrise" veröffentlicht haben, seitdem im Herbst 2015 knapp eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Die Anzahl von Asylsuchenden sank von rund 800.000 im Jahr 2016 auf nun rund 200.000. Die Berichterstattung über Flüchtlinge ebbte jedoch nicht im gleichen Maße ab

Berichten wir an den Menschen vorbei?

Füttern wir das Publikum also mit Informationen, die es gar nicht will und verfälschen wir die politische Agenda? Demoskopen und Politiker sagen: Ja - und nein. Das Thema Migration an sich mag nicht die Hauptsorge des Durchschnitts-Deutschen sein, meint etwa Torsten Schneider-Haase von Emnid. Aber es könne gut mit anderen Themen verknüpft werden, zum Beispiel der Debatte über die Höhe der Renten oder die hohen Mietpreise. "Man könnte sich fragen: Wer ist Schuld an den hohen Mieten? Und dann könnten die Zuwanderer zumindest eine indirekte Rolle in den Gedanken der Befragten spielen", so Schneider-Haase.

Wichtig wird ein Thema, wenn Medien darüber berichten

Eine weitere Umfrage in dieser Woche, diesmal vom Allensbach-Institut, bekräftigt diese Einschätzung. Auf die Frage, ob sie sich Sorgen wegen der vielen Flüchtlinge in Deutschland machen, antworteten 47 Prozent der Teilnehmer, sie machten sich "erhebliche Sorgen". 37 Prozent erklärten, sie machten sich "einige Sorgen". 

Deutschland Ausgabestelle für Flüchtlinge
Ein Thema, dass nur durch die Medien wichtig wird? Flüchtlinge in Deutschland. Bild: Imago/J. Jeske

Medienforscherin Paula Diehl von der Universität Bielefeld macht eine übermäßige Aufmerksamkeit bei Journalisten und Politikern in Deutschland aus, wenn es um die Themen Muslime, Flucht und Integration geht.

"Sobald bestimmte Themen in den Medien allgegenwärtig sind, manifestieren sie sich. Sie werden zu wichtigen Themen, unabhängig davon, ob sie auch ohne Berichterstattung relevant sind oder nicht." Mit anderen Worten: Dauernde Berichterstattung kann ein Thema von mittlerem Gewicht zu einem zentralem Thema machen.

Ein mögliches Beispiel dafür sind die letzten Tage vor der Bundestagswahl am 24. September 2017. Am 22. August, eine Monat vor dem Urnengang, stand Angela Merkels CDU noch bei 39,5 Prozent in den Umfragen und lag weit vor den Sozialdemokraten. Die Wahl schien langweilig zu werden, eigentlich eine Nicht-Geschichte. Die Journalisten suchten verzweifelt nach Themen.

Die Wochen vor der Bundestagswahl

Unter dem Eindruck des Terroranschlags von Barcelona am 17. August 2017 verstärkte dann die AfD ihre Attacken auf die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Zu diesem Zeitpunkt lagen die Rechtspopulisten bei rund sieben Prozent. Bei der Bundestagswahl war das AfD-Ergebnis dann doppelt so hoch wie noch vor einen Monat erwartet; die Konservativen fielen auf rund 33 Prozent.

Infografik Umfrage und Wahl-Ergebnisse 2017 DE

Was Journalisten und Populisten eint

Medienforscherin Diehl glaubt, dass Journalisten die Rechtspopulisten oft unbeabsichtigt unterstützen, weil beide Gruppen entlang ähnlicher Grundsätze arbeiten. Beide versuchten, komplexe Zusammenhänge einfach zu erklären. Beide Gruppen betonten Konflikte, personalisierten und emotionalisierten Geschichten.

"Es ist nicht nur so, dass die AfD die Medien benutzt, es ist eine Symbiose. Die Medien bekommen Aufmerksamkeit, wenn sie über die AfD berichten. Von solchen Akteuren abhängig zu sein, ist ein großes Problem. Schaukelt sich diese Dynamik immer weiter hoch, sind es irgendwann die Rechtspopulisten, die den medialen Diskurs dominieren", so Diehl.

Die AfD - eine Hashtag-Partei

Das erinnert an Symbiosen, wie sie in der Natur vorkommen: Haie werden stets von kleinen Fischen begleitet, die sie von Parasiten säubern und so von ihnen leben. In diesem Bild bin ich einer der kleinen Fische. Und noch eine andere Entwicklung bringt die Gegner von Zuwanderung und Medien einander näher: Nicht nur die Art, wie Journalisten schreiben, hat sich verändert, sondern auch die Themen und das Tempo, in dem sie schreiben.

Tigerhai mit Schiffshalter
Die Beziehung zwischen den Medien und den Populisten spiegelt die Symbiosen in der Natur widerBild: Imago/imagebroker/Sea Tops

Überschriften werden für Suchmaschinen optimiert, mit möglichst vielen populären Suchbegriffen ganz am Anfang. Nur die ersten 56 Zeichen einer Überschrift und 156 Zeichen im Vorspann zählen wirklich. Eine Geschichte ohne begleitenden Hashtag ist aus Sicht vieler Medienmacher nichts wert. Und was war der wichtigste Hashtag vor und während der Bundestagswahl? #AfD! Und welcher hatte die meisten Zugriffe? #AfD! Und welche deutsche Partei war führend bei der Nutzung der sozialen Medien, vor allem Twitter? Die AfD.

Symbolbild Hate Speech
Journalisten und "Soziale Medien"? Wer jagt hier wen? Bild: DW/P. Böll

Die Rolle der Medienprofis

Für den Medienforscher Wolfgang König von der Universität in Koblenz-Landau ist es egal, dass die meisten Einträge in den "Sozialen Medien" über die AfD negativ sind. Auch, dass die meisten Deutschen gar nicht bei Twitter aktiv sind. Journalisten, von denen viele wahre Twitter-Junkies sind, übertragen, was auf Twitter als wichtig erachtet wird, irrtümlich auf ihre Leser.

"Das Thema Flüchtlinge wird mittlerweile überwiegend von Medien-Profis entsprechend vorbereitet und auf Twitter und Facebook gesetzt und findet dann Reaktionen. Ein Beispiel hierfür ist unsere Studie zum TV-Duell zur Bundestagswahl 2017. Auf Twitter dominierte das Flüchtlingsthema deutlich während des TV-Duells, weil das Thema in der ersten Stunde dieser TV-Sendung im Mittelpunkt stand." Anders gesagt: Von der Eins-zu-eins-Debatte Merkel-contra-Schulz profitierte möglicherweise am meisten die AfD.

AfD-Parteitag in Augsburg
Haben gerade gut lachen: Alexander Gauland und Alice Weidel von der AfDBild: Reuters/M. Rehle

Was Politiker dazu sagen

Und was denken die Politiker? Sogar Vertreter der regierenden Großen Koalition von CDU,CSU und SPD glauben, dass das Thema Migration zu viel Aufmerksamkeit findet. Und ihre Arbeit dadurch erschwert wird.

"Ich habe den Eindruck, dass das ganze Spektrum der Herausforderungen, vor denen wir stehen, von den Medien nicht abgedeckt wird, was dann bei der Bevölkerung unter Umständen den Eindruck erweckt, als würden sich die Abgeordneten oder die Regierung um die Probleme und Sorgen der Einzelnen nicht kümmern", sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter.

Und Sonja Steffen von der SPD meint: "Die eigentlichen Sorgen der Menschen sind das, was jeden Einzelnen täglich beschäftigt. Gute Arbeit, bezahlbare Mieten, gute Bildung für die Kinder, Sicherheit und ein gutes Auskommen im Alter. Die Migrationsthematik wird von Teilen der Politik, dazu gehört hauptsächlich die AfD, künstlich geschürt und hochgespült."

Digitalisierung, Steuern, Rente: Kaum jemand spricht davon

Die anderen deutschen Oppositionsparteien, die Liberalen, die Grünen und die Linken, sind besonders frustriert über das erfolgreiche Agenda-Setting der AfD. Sie beklagen, nicht beachtet zu werden, wenn sie andere Problemfelder als Migration und Asyl ansprechen wollen. FDP-Generalsekretärin Nicola Beer etwa möchte mehr Aufmerksamkeit für die Themen Digitalisierung, geringere Steuern und eine Verbesserung der maroden Infrastruktur. Auch wenn auch sie Reformen in der Asylpolitik und bei der Zuwanderung will. "Meine große Sorge ist, dass wir die Zukunft unseres Landes vernachlässigen, wenn wir diese perspektivischen Themen nicht endlich mit der Aufmerksamkeit behandeln, die ihnen zukommen muss." 

Hannover Bundesparteitag Die Linke
Linken-Parteichef Bernd RiexingerBild: picture alliance/dpa/P. Steffen

Der Linkspartei-Vorsitzende Bernd Riexinger formuliert das so: "Die Themen Flüchtlinge und AfD dominieren seit Sommer 2015 Medien und Politik und drängen alle anderen Themen an den Rand. Dass inzwischen viel weniger Geflüchtete nach Deutschland und Europa kommen, hat daran wenig geändert. So entsteht ein Zerrbild, das immer weniger mit der Realität zu tun hat".

Was wir brauchen: Selbstkritik

Das sehen die meisten Journalisten genau so, auch wenn weder Politiker noch Demoskopen oder Medienforscher in der Lage sind, uns zu sagen, wie wir das ändern können. Vielleicht ist eine größere Selbstkritik und ein schärferes Bewusstsein über die Auswirkungen der Berichterstattung ein Schritt hin zu einer Besserung. Denn die große Mehrheit der Medien möchte ein möglichst differenziertes Bild der Gesellschaft zeichnen, über die sie berichten. Trotz der großen Drucks, Klicks im Netz zu erzeugen. Journalisten müssen mehr tun, als einfach nur der aktuellen Agenda zu folgen. In der Natur bestimmt immer der Hai die Richtung, in die geschwommen wird, nicht seine kleinen Begleiter. Wir sollen aber mal zusehen, dass es im Journalismus sowie in der Politik anders ist