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Politik

Polen sucht nach Nazi-Verbrechern

30. Januar 2018

Polen sucht nach 1600 ehemaligen SS-Männern. Sie werden beschuldigt, in deutschen Konzentrationslagern Kriegsverbrechen begangen zu haben. Die Zeit, sie zur Rechenschaft zu ziehen, wird knapp. Jetzt soll Interpol helfen.

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Deutschland Judenstern Rampe KZ Auschwitz
Bild: picture-alliance/IMAGNO/Austrian Archives

Polnische Staatsanwälte stehen vor einer ambitionierten Aufgabe: Sie wollen noch lebende Mitglieder der SS finden und vor Gericht stellen, die in deutschen Konzentrationslagern während des Zweiten Weltkrieges Verbrechen begangen haben. Möglicherweise ist das die letzte Chance, die letzten noch lebenden Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen.

"Wir müssen die Massenmorde in deutschen Konzentrationslagern endlich umfassend angehen. Es ist die Pflicht eines Staatsanwalts, den Täter zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen. Wir wollen wissen, ob es möglich ist, die Naziverbrecher jetzt noch zu finden", sagt Staatsanwalt Robert Janicki vom Institut für Nationales Gedenken (IPN) in Warschau im Gespräch mit der DW. 

Das 1999 gegründete Institut, das sich wissenschaftlich und juristisch mit der Geschichte Polens unter deutscher und sowjetischer Besatzung beschäftigt, hat hunderte Ermittlungsverfahrenen wegen Naziverbrechen auf den Weg gebracht. Sie betreffen vor allem Massenerschiessungen und Säuberungsaktionen in polnischen Dörfern während der deutschen Besatzung (1939 bis 1945) und Verbrechen an der Zivilbevölkerung im Warschauer Aufstand (1944). Darunter sind Ermittlungen von Amts wegen wie auch Einzelfälle, in denen Verwandte von Opfern individuelle Klagen eingereicht haben.

Fahndung nach bestimmten Verdächtigen

Die 9 umfangreichsten Ermittlungsverfahren betreffen Massenmorde an polnischen Staatsbürgern in deutschen Konzentrationslagern während des Zweiten Weltkrieges; genau diese will das IPN jetzt intensiver angehen. Betroffen sind die KZs Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück, Majdanek-Lublin, Buchenwald, Mauthausen, Sachsenhausen, Dachau, Mittelbau-Dora und Groß-Rosen. "Es ist aber keine allgemeine Suche nach den Schuldigen, sondern nach ganz bestimmten Personen. Wir haben Beweise gegen diese Personen und genaue Informationen wie ihre Namen und die Funktionen, die sie in den KZs ausgeübt haben", betont Robert Janicki.

Warschauer Aufstand 1944
Auch die Verbrechen während des Warschauer Aufstandes 1944 werden untersuchtBild: Museum Warschauer Aufstand 1944 in Warschau

Eine Arbeitsgruppe aus Staatsanwälten und Historikern hat in monatelanger Arbeit die Namen von 23.000 SS-Funktionären aus den KZs zusammengestellt. Davon wurden 1600 nach festen Kriterien aussortiert: Es sind Personen, die für ihre Verbrechen noch nicht bestraft wurden, die während des Krieges zwischen 20 und 30 Jahre alt waren, und deren frühere Berufe und Adressen bekannt sind. Mit diesen genauen Angaben hoffen die polnischen Ermittler auf Fahndungserfolge.

Jetzt hat Polen auch die internationale kriminalpolizeiliche Organisation Interpol eingeschaltet. Bislang wurden dort 400 Ermittlungsanträge aus Polen gestellt; weitere 1200 werden folgen. Erste Fälle wurden bereits überprüft. Die Antworten, die aus Deutschland und Österreich kamen, waren alle negativ: Die Gesuchten seien nicht mehr am Leben oder der Wohnort sei unbekannt.

Keine Verjährung für Kriegsverbrechen

Die meisten der gesuchten SS-Leuten leben wahrscheinlich in Deutschland, vermutet Staatsanwalt Janicki. Falls sie gefunden würden, würde Polen einen Europäischen Haftbefehl ausstellen und sich an Deutschland um ihre Auslieferung wenden. Unter den Beschuldigten sind aber nicht nur Deutsche, sondern auch Österreicher, Ukrainer, Weißrussen und Letten.

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges wurden in Polen zahlreiche Ermittlungsverfahren eingeleitet, die sich auf Einzeltäter wie auf Massenverbrechen bezogen. Die meisten dieser Verfahren wurden in den 60er und 70er Jahren eingestellt. Damals scheiterten diese Versuche vor allem an der mangelnden Bereitschaft westdeutscher Behörden, bei der Aufklärung der Verbrechen mitzuarbeiten. Die damalige Rechtslage und Rechtssprechung haben dazu geführt, dass in dieser Zeit in der Bundesrepublik nur ein Bruchteil der deutschen NS-Verbrecher vor Gericht gestellt und verurteilt werden konnten.

Die Wende kam erst 2011 mit dem Prozess gegen den ehemaligen SS-Angehörigen Iwan "John" Demjanjuk, der im deutschen Vernichtungslager Treblinka seinen Dienst getan hatte. Zum ersten Mal verhängte ein deutsches Gericht eine Freiheitsstrafe für Beihilfe zum Mord in einem KZ, ohne dass eine individuelle Straftat bewiesen werden musste. Seitdem wurden in Deutschland zahlreiche Ermittlungen neu aufgerollt und auch, wie im Fall des 96-jährigen "Buchhalter von Auschwitz" Oskar Gröning, zum Abschluss gebracht. Nun hoffen die polnischen Staatsanwälte, dass die geänderte Rechtsprechung in Deutschland bei der strafrechtlichen Aufarbeitung des Verbrechens helfen wird.

John Demjanjuk
Historische Verurteilung: NS-Kriegsverbrecher Demjanjuk vor dem Landgericht in MünchenBild: picture-alliance/dpa

Das Institut für Nationales Gedenken, das 1999 die Akten aus der kommunistischen Zeit übernommen hat, hat viele Ermittlungen wieder aufgenommen. Nach dem polnischen Recht gibt es keine Verjährung für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid.

350 laufende Ermittlungen

Von den umfangreichen Fällen, die die Massenmorde in den Konzentrationslagern betreffen, wurden bislang drei abgeschlossen. Einer von ihnen betraf das Konzentrationslager Warschau, das 1943 auf den Ruinen des Warschauer Ghettos errichtet wurde. Im zweiten Fall handelte es sich um das KZ in Leitmeritz in Tschechien, wo 18.000 Häftlinge, die Hälfte aus Polen, unter unwürdigen Bedingungen beim Bau einer unterirdischen Motorenfabrik der Firma Auto Union gearbeitet haben. Bei der dritten beendeten Ermittlung wurden Verbrechen im KZ Stutthof bei Danzig untersucht. Die Staatsanwälte konnten aber in keinem der Fälle Täter zur Rechenschaft ziehen. Die jahrelang gesammelten Informationen werden nun von Historikern des Instituts wissenschaftlich ausgewertet.

Insgesamt wird derzeit beim Institut für Nationales Gedenken in rund 350 Fällen wegen deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg ermittelt. Laut Staatsanwalt Janicki soll die internationale Suche nach den letzten lebenden SS-Männern via Interpol helfen, "die Kriegsfälle endlich abzuschließen".

Porträt einer Frau mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen
Monika Sieradzka DW-Korrespondentin in Warschau
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