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Virtuosen unter freiem Himmel

4. April 2002

Wenn die ersten warmen Frühlingstage die Menschen zum Flanieren in die Fußgängerzonen locken, können sich Musikfreunde besonders freuen: Erstklassige Berufsmusiker aus Osteuropa spielen auf den Straßen und Plätzen.

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Straßenmusiker aus der UkraineBild: Bilderbox

Nach dem Zerfall der Sowjetunion treibt es in den Sommermonaten Scharen von ausgebildeten Musikern aus dem Osten in die deutschen Großstädte, wo sie als Straßenmusiker ihren Lebensunterhalt bestreiten. Ob Sänger aus Wolgograd, Bläsergruppen aus St. Petersburg oder Geiger aus Kiew - die zumeist sehr guten Künstler werden vom Publikum oft mit einer Mischung aus Bewunderung und Mitleid bestaunt. Wer die Qualität erkennt, entlohnt gerne in klingender Münze.

Mit der Kunstszene ging es bergab

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat die reiche Kunstszene in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion heftig gelitten. Die Zahl der Orchester, Opern oder Konzerte nimmt ständig ab. Eine Vielzahl von Berufsmusikern ist arbeitslos geworden. Nicht selten trifft man in Deutschlands Fußgängerzonen daher auf Akkordeon-Spieler, die ein schwieriges Orchesterstück von Vivaldi auswendig spielen.

Einer dieser Künstler ist Wladimir Popolzin. Der 41-Jährige war Lehrer am Konservatorium Barnaul und stellvertretender Orchesterleiter in der 650.000-Einwohner-Stadt im sibirischen Altai-Gebirge. Doch dem Orchester ging bald das Geld aus. Die musikalische Qualität litt zusehends. 1994 sah Wladimir in seiner sibirischen Heimat keine Zukunft mehr. In Deutschland, so hörte er, könne man sich besser als Straßenmusiker durchs Leben schlagen. Er besorgte sich ein Besuchervisum und war dann fast eine Woche lang mit Bus und Bahn unterwegs, bis er zum ersten Mal sein Knopfakkordeon in den Fußgängerzonen des Rhein-Main-Gebietes auspacken konnte.

Glück im Unglück

Sein virtuoses Spiel und sein klassisches Repertoire fiel bald einigen Musikfreunden auf. Sie gewährten ihm Unterkunft und vermittelten ihm Auftritte bei privaten Feiern, in Heimen und Kirchengemeinden. Für seine Interpretation von Bach-Werken in der Johanniskirche in Kronberg gab es sogar "Standing Ovations".

Da die Besuchervisa immer nur drei Monate im Jahr gültig sind, verbringt Wladimir den größten Teil des Jahres in Barnaul mit dem Arrangement neuer Programme, mit eigenen Kompositionen und mit üben, üben, üben. Mindestens fünf Stunden pro Tag sitzt er an seinem Akkordeon und bereitet sich mit seiner Frau Irina auf die nächsten Reisen in den Westen vor. Sie spielt ebenfalls Akkordeon und tritt seit einigen Jahren zusammen mit ihrem Mann auf.

Hoffnung auf ein Künstlervisum

Das größte Problem ist für viele der östlichen Berufsmusiker das beschränkte Besuchervisum, mit dem pro Jahr über 500.000 Menschen allein aus Russland und der Ukraine nach Deutschland kommen. Es lässt hier aber keine professionelle Arbeit zu, so dass die Künstler ausschließlich von Spenden leben müssen. Würden sie für ihre Auftritte Eintrittsgeld verlangen, bräuchten sie ein Künstlervisum.

Familie Popolzin, zu der auch noch die Geige spielende Tochter Natascha gehört, hat diese Hürde mittlerweile überwunden. Eine kleine Agentur hat der 17-Jährigen für einige Monate das Künstlervisum und mehrere bezahlte Auftritte verschafft. Damit sich ihr Bekanntheitsgrad und somit die Chancen bei den Künstleragenturen weiter verbessern, wollen sie in Zukunft häufiger an internationalen Musikwettbewerben teilnehmen.

Der Start war jedenfalls schon verheißungsvoll: Beim renommierten Festival im italienischen Akkordeonzentrum Castelfidaro errangen sie auf Anhieb den ersten Preis in der Kategorie Jazzmusik. dpa/(fro)