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Professionelles Trauern

Sarah Hucal
15. November 2020

Klageweiber pflegen in Griechenland eine uralte Tradition. Ihre Trauerarbeit gegen Honorar ist aktuell wie nie, meint die Fotografin Ionna Sakellaraki.

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Griechenland Hecate
Trauern ist ihr Beruf: Eine Moirologin auf der griechischen Insel Mani Bild: Ioanna Sakellaraki

Als  Ioanna Sakellarakis Vater starb, kehrte die Fotografin, die in London lebt und arbeitet, in ihre Heimat Griechenland zurück. Dort wollte sie für eine Weile bleiben, um den Verlust zu verarbeiten und Zeit mit ihrer Mutter zu verbringen.

Bei dem Versuch, ihre eigene Trauer zu verstehen, setzte sie sich mit traditionellen Ritualen rund um den Tod in der griechischen Kultur auseinander.

Dabei erfuhr sie von einer Gruppe älterer Frauen, die in abgelegenen Dörfern auf dem Peloponnes noch immer einen alten Beruf ausüben: das gewerbsmäßige Trauern gegen Honorar.  

Lotsen durch den Totenkult

Moirologinnen werden die Frauen genannt: "Moíra" bedeutet Schicksal und "lógos" Sprache. Angefragt werden sie, um bei Beerdigungen in Griechenland zu singen und zu trauern, um so die Familien durch die komplexen Rituale des traditionellen griechischen Totenkults zu führen. Die Klageweiber werden beauftragt, um Personen zu trauern, die sie niemals getroffen haben. So wie es Frauen vor ihnen seit Jahrhunderten getan haben.

Eine Moirologin; Rückansicht mit Schleier
Berufskleidung: Traditionelles Trauergewand auf der Insel ManiBild: Ioanna Sakellaraki

Davon war Ioanna Sakellaraki sehr fasziniert. Unterstützt durch ein Stipendium der Londoner Royal Photographic Society reiste die 31-jährige Fotografin in abgelegene Dörfer, um mehr über diese Frauen und ihren uralten Beruf zu erfahren.

Ihr Projekt "The Truth is in the Soils" ("Die Wahrheit liegt in der Erde") dokumentiert das Leben von einem Dutzend Moirologinnen. Diese Fotoarbeiten waren im Oktober 2020 im Rahmen des "Europäischen Monats der Fotografie" in einer Einzelausstellung in Berlin zu sehen.

Tradition der "Schicksalslieder"

Die Berufstrauernden der Halbinsel Mani sehen ihre Arbeit darin, der Familie beim Trauern zu helfen und die Verstorbenen auf ihrem Weg ins Jenseits zu begleiten. Die Klagen, die sie singen, nenne man "Schicksalslieder", sagt die Fotografin und Philosophie-Doktorandin Sakellaraki im Gespräch mit der DW. "Sie entstammen einer langen Tradition und sind eine Art mündlicher Improvisation."

Eine Moirologin bei der Arbeit
Eine Moirologin während ihrer Trauer-ArbeitBild: Ioanna Sakellaraki

Historisch gesehen, so Sakellaraki, "bezahlten die Familien die Frauen für diesen Prozess, weil er einfach so wichtig war - es war eine wichtige Art von kollektivem Abschied von der Person."

Die Moirologie geht auf die Chöre der antiken griechischen Tragödien zurück, bei denen der Hauptsänger zu trauern begann, worauf ein Chor einsetzte. Im Laufe der Jahrhunderte war der Beruf ausschließlich Frauen vorbehalten.

Belege für professionelle Bestattungssängerinnen finden sich auch im alten Ägypten, wo zwei Frauen, die die Rollen der Göttinnen-Schwestern Isis und Nephtys spielten, bei der Vorbereitung der Toten halfen.

Trauerredner in Deutschland 

Professionelle Trauernde und Trauerredner gibt es heute auf der ganzen Welt, wobei ihr Beruf je nach kulturellem Kontext sehr unterschiedlich ausgeübt wird. In Deutschland werden Trauerredner engagiert, um bei Beerdigungen ohne kirchlichen Beistand Erinnerungsreden an den Verstorbenen zu halten.

Ioanna Sakellaraki Fotografin
Fotokünstlerin Ioanna SakellarakiBild: Ioanna Sakellaraki

In Teilen Afrikas werden Profis dafür bezahlt, ihre Tränen zu vergießen. Der 1995 erschienene Roman "Wege des Sterbens" des südafrikanischen Schriftstellers Zakes Mda erzählt die Geschichte des professionellen Trauernden Toloki, der durch die Barackensiedlungen in Südafrika nach der Apartheid reist.

Im indischen Rajasthan gibt es eine eher ausbeuterische Tradition, bei der Frauen aus niedrigen Kasten für wohlhabende Männer arbeiten und eine Trauer zum Ausdruck bringen, die für Familienmitglieder aus Standesgründen nicht akzeptabel wäre. 

"Manche können nicht weinen"

In China gibt es eine besonders lange Geschichte der Berufstrauer, die bis in die Han-Dynastie zurückreicht. In den vergangenen Jahren hat dieser Berufsstand eine kulturelle Wiederauferstehung erlebt - während der Kulturrevolution war er verboten.

Die heutigen Berufstrauerer in China bieten neben Tränen und Wehklagen auch emotionale Ehrerbietung an die Verstorbenen oder theatralische Aufführungen, um die Stimmung der Trauergemeinde aufzuhellen.

In einer Reportage des US-amerikanischen Radiosenders NPR erklärt einer der bekanntesten Trauer-Profis des Landes, Hu Xinglian: "Manche Menschen können nicht weinen. Deshalb setze ich mein Herz ein, um dieses Lied zu singen, um den Verlust der jüngeren Generation darzustellen."

Stellvertretende Trauerrituale

Theatralik als Mittel, Emotionen freizusetzen, ist auch in der griechischen Tradition heute noch präsent. Die Trauernden von Mani rollen sich zwar nicht wie ihre chinesischen Kollegen tränenaufgelöst auf dem Boden, aber sie kleiden sich ganz in Schwarz und tragen kunstvoll bestickte Schleier, die ihnen einen skulpturalen, theatralischen Charakter verleihen.

Moirologie und die Geschichte in Weltkultur
Trauer als Riss im Sein - eine in Berlin gezeigte Arbeit von Ioanna SakellarakiBild: Ioanna Sakellaraki

"Diese Frauen werden innerhalb dieser Gemeinschaften beinahe zu Agenten des Todes," erzählt Ioanna Sakellaraki. "Sie müssen auf eine bestimmte Art und Weise erscheinen und spielen." Ihre Anwesenheit und ihr Gesang ermöglichen es den Familienmitgliedern der Verstorbenen, ihren Emotionen freien Lauf zu lassen und ihre Trauer zu zeigen, anstatt sie in sich zu behalten. "Es heißt, diese Idee der Reinigung, der Katharsis in der griechischen Kultur kommt aus diesem Ritual", ergänzt die Fotografin.

Trauer in Zeiten von Corona 

Der 15. November ist in Deutschland der Volkstrauertag. Das Thema Tod beschäftigt die Gesellschaft aufgrund der weltweiten COVID-19-Pandemie 2020 wohl mehr als sonst. Deshalb ist die Erforschung von Trauer-Ritualen im Trauerprozess wichtiger denn je.

Doch ausgerechnet in der Pandemie können die persönlichen und privaten Rituale, die für einen Trauerprozess so bedeutsam sind, aufgrund der Abstands- und Hygienevorschriften nicht wie sonst abgehalten werden.

Die Tradition der Moirologie auf der griechischen Halbinsel Mani droht, unabhängig von Corona, bald auszusterben. Viele der Frauen, die Ioanna Sakellaraki fotografiert hat, sind fast einhundert Jahre alt. Und bislang nimmt niemand aus der jüngeren Generation ihren Platz ein. Doch vielleicht werden ihre Lieder überleben.