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Vom Stubenwagen zum Doppelsitzer

Suzanne Cords4. September 2016

In dem Städtchen Zeitz entwickelte ein Stellmacher um 1850 den ersten "Ziehwagen für Säuglinge" weltweit. Das passende Museum zum Kinderwagen ist einmalig in Europa und präsentiert sich jetzt im neuen Glanz.

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Ein Baby sitzt in einem altmodischen Kinderwagen (Foto: Waltraud Grubitzsch)
Bild: picture alliance/ZB/W. Grubitzsch

Heute sieht man sie überall im Straßenbild - mit und ohne Rüschen, bunt gemustert oder einfarbig, konventionell oder sportlich höher gelegt: Kinderwagen. 1853 ließ sich Charles Burton das allererste Modell in London unter dem Namen "Perambulator" patentieren. Das Ganze hatte etwas von einer Kutsche im Kleinformat und einem Krankenfahrstuhl. Für Säuglinge war das Gefährt nicht geeignet.

Kinderwagen-Hochburg Sachsen

Etwa zur gleichen Zeit konstruierte in dem sächsischen Städtchen Zeitz, im heutigen Sachsen-Anhalt, der Stellmacher Ernst Albert Naether einen Ziehwagen, mit dem man Babys mühelos "außerhalb des Hauses transportieren" konnte. Die bürgerlichen Familien in den Städten wollten schon bald nicht mehr auf so einen Kindertransportwagen verzichten, die Nachfrage stieg ständig.

Alte Kinderwagen stehen dicht an dicht Foto: picture alliance/dpa/H. Schmidt
Viele dieser eingelagerten Modelle stammen aus ZeitzBild: picture alliance/dpa/H. Schmidt

Schon bald stiegen auch andere Handwerker in das Kinderwagengeschäft ein, und Zeitz entwickelte sich deutschlandweit zum Zentrum der Branche. Wurden im Einwohneradressbuch der Stadt Zeitz von 1866 unter der Rubrik Fabrikanten vier Kinderwagenfirmen erwähnt, so waren elf Jahre später bereits zwölf Firmen aufgeführt, und es kamen immer weitere hinzu.

Ein langer Weg zum Museum

Der ortsansässige Geschichts- und Altertumsverein stellte im Heimatmuseum schon Ende der 1930 Jahre erste Kinderwagen aus. Der Zweite Weltkrieg und die Enteignung des Vereins in der neugegründeten DDR ließ weitere Pläne für ein großes Museum zunächst in Vergessenheit geraten.

Erst Ende der 70er-Jahre wurde das Projekt einer Kinderwagenausstellung im Schloss Moritzburg wieder aufgegriffen. Das Schloss wurde aufwendig renoviert, und die Museumsbetreiber hatten gute Beziehungen zum Volkseigenen Betrieb (VEB) Zekiwa Zeitz, dem führenden Produzenten von Kinderwagen in der DDR. Im Osten war das Zewika-Modell so bekannt wie der "Trabbi" - und genauso begehrt.

Zur neuen Schau steuerte der Betrieb sowohl historische Dokumente als auch alte Kinderwagen bei. 1984 wurde die Dauerausstellung eingerichtet und 1996 anlässlich des 150-jährigen Jubiläums des Kinderwagenbaus in Zeitz noch einmal erweitert.

Neueröffnung mit digitalem Touch

Jetzt folgten die Rundumerneuerung und die Anpassung ans digitale Zeitalter. Am 4. September hat das Museum nach einem Jahr Restaurierung wieder eröffnet. Es geht multimedial her, viele Informationen kann man per Knopfdruck abfragen.

Besonders im Fokus steht dabei die Firmengeschichte des ersten Zeitzer Kinderwagenproduzenten Naether. Die Besucher können durch einen digitalisierten Katalog von 1926 blättern, der die Ausstattungsvarianten der Modelle zu dieser Zeit zeigt. Schon die Auswahl an Materialien ließ kaum Wünsche offen: Holz, Weide, Korb, Ledertuch, Kunstleder oder Stoff. "Das ist mit der Bestellung eines Autos vergleichbar", findet Museumsleiterin Kristin Otto.

Zwei kleine Kinder schieben Puppenwagen herum (Foto: Waltraud Grubitzsch)
Anfassen gehört im Kinderwagenmuseum dazuBild: picture alliance/ZB/W. Grubitzsch

Und noch eine Parallele zu den Gefährten der Erwachsenen gibt es: In beleuchteten Vitrinen sind Einzelteile wie Räder, Gestelle, Federungen und Dekostoffe zu sehen, die auch bei der Fertigung von Kinderwagen schon seit Langem von Zulieferbetrieben produziert werden. Besonders spannend für Kinder: Viele Ausstellungsstücke sind nicht nur zum Anschauen gedacht. Jeder kann die Kinderwagen ausprobieren und - falls "zur Hand" - versuchen, ein weinendes Kind darin zu beruhigen. Welche Federung wohl am beruhigendsten schaukelt?