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Von der Sehnsucht nach der Lichtgestalt

Birgit Görtz16. März 2012

Alle wollen Gauck als Bundespräsidenten, so scheint es. Binnen kurzem ist er zur Projektionsfläche von Sehnsüchten geworden – nach einem, der sagt, wo’s lang geht.

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"Bürger für Gauck" – ein Demonstrant hält ein Transparent vor dem Bundeskanzleramt hoch (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

"Wir sehen die Sehnsucht nach dem Übervater. Nach einem, der sagt, was richtig und was falsch ist, nach einem, der uns – wie das Nachrichtenmagazin Spiegel schreibt – auf die Couch legt’", sagt Friedrich Schorlemmer, Theologe, Bürgerrechtler in der Ex-DDR und heute SPD-Mitglied.

Die Deutschen als Volk, das kollektiv analysiert und therapiert werden will? Wollen das die Menschen wirklich? Oder ist das wieder die German Angst, die typisch deutsche Verzagtheit, von der das Land kuriert werden will? Wahrscheinlich ist die Sache viel einfacher: Warum die Sehnsucht nach dem intellektuellen Fingerzeig so groß ist, beantwortet die Rückschau auf die Amtsvorgänger. Denn die letzten beiden Präsidenten, der spröde Ökonom Horst Köhler und der gelernte Berufspolitiker Christian Wullf, haben die Menschen enttäuscht.

Das Geheimnis von Gaucks Strahlkraft

Und nun Gauck. Offenbar besitzt er etwas, was seine Vorgänger nicht hatten – Charisma. Das Wort stammt aus dem Griechischen und bedeutet "Gnadengabe", was in der christlich-jüdischen Tradition als "Gottesgabe" verstanden wurde. Im politischen Sinne sei Charisma immer Ausdruck einer sozialen Beziehung zwischen charismatischem Führer und Anhängerschaft, schreiben die Politikwissen-schaftlerinnen Berit Bliesemann de Guevara und Tatjana Reiber in ihrem Band "Charisma und Herrschaft". Stellt sich also erstens die Frage: Was ist das Geheimnis von Gaucks Charisma? Und zweitens: Warum fühlt sich das Gros der Bundesbürger davon angesprochen? Schließlich liegen seine Zustimmungswerte laut verschiedenen Umfragen bei rund 70 Prozent.

Thomas Klie ist Theologie-Professor an der Universität Rostock. Er erklärt Gaucks Charisma mit dessen Rhetorik: "Sein Charisma liegt in seiner rhetorischen Präsenz. Er kann gut zuhören und kann in der Diskussion gut argumentieren, ohne ins Schleudern zu geraten oder sich in Floskeln zu flüchten, wie es Politiker oft tun." Gauck sei authentisch und streitbar, scheue keine Kontroversen und weiche auch bei hitzigen Wortgefechten nicht aus.

Der designierte Bundespräsident Joachim Gauck (Foto: dapd)
"Er kann gut zuhören, ist authentisch und streitbar", sagt der Theologe Klie über Gauck.Bild: dapd

Tatsächlich sagt die Sehnsucht nach einem charismatischen Menschen wie Gauck mehr über die deutsche Befindlichkeit aus als über ihn selbst. "Psychotherapeuten würden sagen, dass es bei Projektionen um den geht, der projiziert und nicht um den, auf den projiziert wird", meint Thomas Klie. Reichen also schlichte sozialpsychologische Verhaltensmuster aus, um den Ruf nach der Lichtgestalt in der krisenhaften Situation zu erklären?

Der Hoffnungsträger

Tagtäglich erfahren die Menschen in den Nachrichten, dass wir in krisenhaften Zeiten leben - man denke nur an die Finanzkrise. Die Menschen spüren, dass die gegenwärtigen Herausforderungen so groß sind, dass es mit dem typischen floskelhaften Politsprech nicht getan ist, dass das politische Personal in den Augen Vieler nicht adäquat reagiert, weder auf den Wunsch der Menschen nach Antworten noch auf die krisenhaften Zuspitzungen als solche, schreibt der Publizist Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung.

Gauck, der als Gemeindepastor in der DDR dem Unrechtsstaat trotzte und nach deren Zusammenbruch als Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde entscheidend zur Aufdeckung der Mechanismen des Unterdrückungsapparates beitrug, könnte diese Lücke füllen, hoffen viele Menschen. "Gauck soll Bundespräsident werden, weil er einmal ein Repräsentant der Gesellschaft gegen die Politik war, weil er ein persönliches Risiko für sich und seine Anhänger einging, weil die politische Moral in ihm die Autorität einer Behörde annahm und weil man sich von ihm die Wiederbelebung des Politischen durch die Moral erhofft", meint Steinfeld.

Wie lange wird der Gauck-Hype anhalten?

In seiner Zeit als Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde sagte Gauck über sich: "Ich werde unangemessen geliebt, ich werde unangemessen gehasst." Dieser Satz wird nun landauf, landab kolportiert. Als "Präsident der Herzen" wird Gauck derzeit wohl eher unangemessen geliebt. Das müsse nicht so bleiben, meint der Publizist und Zukunftsforscher Matthias Horx. Denn Gauck biete "keine moralischen Hülsen, keine wohlklingenden Gewissheiten, sondern Denk-Stücke oder Zweifel." Er sei alles andere als ein bequemer Volksversöhner ohne peinliches Bankkonto, schreibt Horx auf seiner Webseite. Gauck habe einen unglaublich unbequemen Lebens- und Arbeitsbegriff: den der Freiheit.

Porträt Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher (Foto: Klaus Vyhnalek)
"Wir werden uns noch wundern", sagt der Zukunftsforscher Matthias Horx.Bild: Klaus Vyhnalek

Freiheit ist in der Tat ein Schlüsselbegriff bei Gauck – und der Titel seines neuen Buches. Der Gaucksche Freiheitsbegriff meint aber nicht das Maß der individuellen Freiheit, also Dinge tun und lassen zu können, wie es einem beliebt. Gauck meint vielmehr die Freiheit, sich ein Ziel zu wählen und die daraus erwachsende Pflicht, Verantwortung zu übernehmen, Engagement zu zeigen, damit aus der persönlichen Freiheit ein Wert für die gesamte Gesellschaft erwachsen kann. "Jeder schätzt seine individuelle Freiheit. Doch wird die Freiheit nur individuell eingelöst, oder geht das auch in Bezug auf das Kollektiv?", fragt der Theologe Thomas Klie. Er wirft zudem die Frage auf, wie es um die Freiheit derjenigen bestellt sei, die sich in sozial prekären Situationen wiederfinden: "Welche Freiheit hat jemand, der in Hartz IV lebt?" Entscheidende Fragen, denen sich die deutsche Gesellschaft bislang nicht gestellt hat.

Sein Thema ist die Freiheit

Friedrich Schorlemmer hat sich ebenfalls mit Gaucks Freiheitsbegriff auseinander gesetzt. Er ist der Ansicht, Gauck springe thematisch zu kurz. "Wir gehen auf schwierige Zeiten zu, wir müssen uns mit Zukunftsfragen beschäftigen: die wachsende soziale Kluft, Migration, Energiesicherheit und Ressourcen. Da reicht der Freiheitsbegriff nicht. Da ist mir Gaucks Thementableau zu klein." Freiheit stehe nicht allein, sondern gehe einher mit Gerechtigkeit und Solidarität. "Und da finde ich Gauck zu eng und zu stark auf das bezogen, was wir überwunden haben: die Diktatur. Wir dürfen uns nicht nur über die Machenschaften des Kommunismus erregen, sondern auch die des modernen Kapitalismus thematisieren, nämlich das Streben nach Gewinn."

Der evangelische Theologe Friedrich Schorlemmer (Foto: Tom Schulze)
"Mir ist Gaucks Thementableau zu klein", sagt der Theologe Friedrich Schorlemmer.Bild: picture-alliance/dpa

Die deutsche Öffentlichkeit darf gespannt sein, welche Themenfelder Gauck besetzen wird. In jedem Falle darf man Glaubwürdigkeit von Gauck erwarten. "Jetzt kommt einer, der es ernst meint", meint Matthias Horx. Mit Joachim Gauck hätten wir uns einen Intellektuellen eingehandelt, der tatsächlich von der Zukunft spricht. "Wetten, dass uns das schon bald schwer auf die Nerven geht?"

Was Gauck den Menschen anzubieten hat

Gauck ist kein Populist, keiner, der in Plattitüden spricht, keiner, der verkürzt, sondern jemand, der komplizierte Zusammenhänge aufgreift und Fragen stellt. Gut so, findet Thomas Klie: "Ich vertrete die These, dass ein Bundespräsident nicht plakativ sein darf. Wenn jemand sich mal traut, Diskurse und Abstrakta in die politische Debatte einzubringen, in die Gefahr gerät, nicht verstanden zu werden, dann müssen wir uns fragen, was für eine politische Kultur wir haben." Schließlich würden die Menschen allenthalben erleben, dass die einfachen Lösungen nicht mehr passen.

Ist es also die Zeit, die reif ist, für einen Mann wie Gauck oder ist es seine Persönlichkeit, die die Menschen anspricht? Oder beides? Womöglich lautet die Antwort: Der Mann ist zur rechten Zeit am rechten Ort – und tut das, was er nach Ansicht von Thomas Klie par excellence beherrscht: "Gauck predigt – und zwar im besten Sinne des Wortes. Eine gute Predigt hört sich so an, wie Gauck spricht: in der Freiheit des Geistes zur Situation das zu sagen, was an der Tagesordnung und was moralisch verantwortbar ist", sagt Thomas Klie.

Thomas Klie, Theologieprofessor Universität Rostock. Copyright: Thomas Klie
"Gauck predigt im besten Sinne des Wortes", sagt der Theologe Thomas Klie.Bild: Thomas Klie

Folgt man Klie, dann ist das, was er eine "gute Predigt" nennt, nicht nur etwas für Kirchgänger. Sie ist universal, weil sie den Menschen auf Augenhöhe begegnet und sie in ihrer Lebenswirklichkeit anspricht. Manche Kommentatoren scheinen zu befürchten, dass Gauck zu einer Art Bundespastor werde. Ist die Sorge berechtigt? Nein, vorausgesetzt, dass Gaucks "Predigten" nicht als Missionierung, sondern als unaufdringliches Angebot daherkommen. Gauck wird wissen, dass ein Pastor davon lebt, bei seiner Gemeinde Gehör zu finden und verstanden zu werden.