1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Von gefühlten Wahrheiten: Faszination Apokalypse

Sabrina Müller-Plotnikow
11. Dezember 2017

Früher war alles schlechter? Ja, meint das Forschungsinstitut Ipsos Mori. Doch die Deutschen nehmen die Realität gerne negativer wahr, als sie ist. Die Unsicherheit wächst. Wir haben uns trotzdem getraut, nachzufragen.

https://p.dw.com/p/2p9sG
Deutschland BdT Gewitter in Dresden
Bild: picture-alliance/dpa/M. Skolimowska

"Wahrheit, die: die Übereinstimmung einer Aussage mit der Sache, über die sie gemacht wird". So steht es im Duden. Ganze, reine und nackte, traurige oder unangenehme Wahrheit werden als Beispiele angeführt. Im Grunde genommen ist Wahrheit, ein wirklicher, wahrer Sachverhalt, ein Substantiv, das kein Adjektiv benötigt. Gleichzeitig werden immer mehr "gefühlte Wahrheiten" veröffentlicht. Ist das der neue Sprachgebrauch postfaktischer Zeiten?

Alle Jahre wieder veröffentlicht das Meinungsforschungsinstitut Ipsos Mori eine Studie über den Unterschied zwischen Aussagen, die auf Gefühlen beruhen, und Tatsachen, die statistisch festgehalten sind. Die Forscher nennen ihre Studie "Wahrnehmungsfallen" (Perils of Perception).

Ein Test: Glauben Sie, die Mordrate in Deutschland ist genauso groß, höher oder niedriger als im Jahr 2000? "Höher natürlich", sagt der Studie zufolge ein Drittel der 2000 Befragten in Deutschland. Mehr als 40 Prozent meinen, sie sei gleichgeblieben. Und 14 Prozent geben an, die Mordrate sei in den vergangenen Jahren gesunken - und haben Recht: Im Vergleich zum Jahr 2000 kommen aktuell in Deutschland deutlich weniger Menschen gewaltsam ums Leben - 33 Prozent um genau zu sein. Die Statistik belegt einen deutlichen Rückgang, doch ein Großteil der Bevölkerung sieht es anders.

USA Aufnahme vom 11. September 2001 (Foto: picture alliance/dpa/NIST)
Tausende Menschen starben bei dem Anschlag auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001Bild: picture alliance/dpa/NIST

Noch ein Versuch. Was glauben Sie: Gab es in Deutschland nach den Anschlägen vom 11. September 2001, zwischen den Jahren 2002 bis 2016, mehr, weniger oder genauso viele Todesopfer durch Terroranschläge als in den 15 Jahren zwischen 1985 und 2000? Etwa die Hälfte der befragten Deutschen schätzen, dass es in den Jahren 2002 und 2016 mehr Opfer durch terroristische Akte gegeben hat als in dem Vergleichszeitraum vor den New Yorker Anschlägen. Ein Drittel mutmaßt, die Anzahl sei gleich geblieben. Und die Wahrheit ist: Die Zahl ist gesunken - von 51 auf 36. Geschätzt haben das nur acht Prozent der Befragten.

Wechselspiel aus Wahrnehmung und Wahrheit

Die Wahrscheinlichkeit, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen, ist geringer als die, von einem Blitz erschlagen zu werden. Das ist eine Tatsache, die von vielen Leuten nicht realisiert werde, sagt Wolfgang Bonß. Der Soziologe an der Universität der Bundeswehr München erforscht, warum subjektive Wahrnehmung und objektive Daten auseinanderklaffen. "Die Gefahr der subjektiven Wahrnehmung von Terroranschlägen besteht darin, dass durch sie der normale Alltag auf einmal zerstört wird. Weil das plötzlich und unerwartet passiert, nimmt man das Ereignis entgegen allen Statistiken dramatisch wahr und entwickelt entsprechende Ängste", sagt er. 

Symbolbild Schwangerschaft (Foto: picture-alliance/dpa/M. Brichta)
Seltenes Ereignis in Deutschland: Die Schwangerschaft eines 15- bis 19-jährigen MädchensBild: picture-alliance/dpa/M. Brichta

Überdramatisierte Gefahr

Bestimmte Gefährdungen würden überdramatisiert. Ein Grund sei die mediale Aufbereitung von Randphänomenen, die sich in den Köpfen der Menschen festsetzen würden. Das zeigt das Studien-Beispiel der Teenagerschwangerschaften, denn bei dieser Frage liegen die Deutschen gewaltig daneben. Bringen hierzulande 0,6 Prozent der 15- bis 19-jährigen Mädchen ein Kind zur Welt, so schätzten die Befragten die Anzahl auf 16 Prozent, obwohl die meisten Befragten, rein statistisch gesehen, kaum ein betroffenes Mädchen kennen dürften. Benß hat dafür eine Erklärung: "Gerade weil eine Teenagerschwangerschaft ein außergewöhnliches Ereignis ist, misst man ihm mehr Bedeutung bei."

Woran krankt die Gesellschaft?

Für die Ipsos-Studie wurden in 38 Ländern jeweils zwischen 500 und 2000 Leute befragt. Zusätzlich zu den zitierten Themenbereichen wurde auch über die Verbreitung von Smartphones, Facebook-Zugängen und Autos spekuliert sowie über das Befinden der Bevölkerung gemutmaßt. Fragen die Ipsos-Forscher nach dem allgemeinen Gesundheitszustand, sind die Deutschen Meister im Jammern. Sie schätzen die gesundheitliche Verfassung ihrer Mitbürger deutlich schlechter ein, als sie eigentlich ist. Knapp zwei Drittel (65%) der Deutschen gab einer Studie der Weltgesundheitsorganisation zufolge an, bei guter oder sehr guter Gesundheit zu sein. Geschätzt wurde der Anteil Gesunden von den von Ipsos Befragten auf nur 56 Prozent. Und auch die Anzahl der an Diabetes Erkrankten wird von den Bundesbürgern weit überschätzt. Lediglich 7 Prozent leiden an der Zuckerkrankheit, vermutet wird jedoch eine Quote von ganzen 31 Prozent.

Think positive! 

Uns gehe es hervorragend, meint Bonß. "Allerdings befinden wir uns nicht in einer Aufbruchphase. Das ist ein grundsätzliches Problem. Denn positive Entwicklungen werden nur realisiert, wenn man sich mit positiven Grundgedanken identifiziert." Aus diesem Grund fordert er in den Medien eine stärkere Betonung positiver Beispiele. Aber grundsätzlich gilt: "Wenn Sie ein Ereignis haben, das über den 'Normalstandard' hinausgeht, dann wird das auch entsprechend positiv wahrgenommen, weil man davon ausgeht, dass dieses positive Ereignis nicht 'normal' ist", sagt er. Dieselbe Wahrnehmung gelte allerdings auch, und vielleicht in noch stärkerem Maße, für "Negativereignisse" wie Terroranschläge.

Der Titel der Studie "Gefahren der Wahrnehmung" zeigt vielleicht eins: Die Wahrnehmung der Bevölkerung kann dann zur Gefahr werden, wenn die Relevanz eines Themas nicht durch Zahlen, Fakten und Argumente bestimmt wird, sondern durch eine verzerrte "gefühlte Wahrheit", mit der durchaus reale Politik gemacht wird - auf der Basis einer emotionalen Fehleinschätzung, bei der die offizielle Statistik von dem abweicht, was wir glauben. 

Apropos Glauben - Was meinen Sie: Wie viele Menschen in Deutschland glauben an Gott, den Himmel oder die Hölle? Starten Sie den Selbsttest hier.