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Von Pfarrerin Lucie Panzer, Stuttgart

12. November 2011

Der Volkstrauertag am 13. November erinnert öffentlich an die Opfer der Weltkriege und der Gewaltherrschaft. Ein Volk, das sich an seine Geschichte erinnert, hat Wurzeln und ein Gewissen.

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Die evangelische Pfarrerin Lucie Panzer, Stuttgart
Bild: GEP

Im November kommen die Gedenktage über einen, man kann dem kaum entgehen. Wir in Deutschland haben den Volkstrauertag, bis heute erinnert er öffentlich an die Opfer der Weltkriege und der Gewaltherrschaft, die von unserem Land ausgegangen sind. Dann, eine Woche später kommt der Ewigkeitssonntag. Auch wer nicht kirchlich gebunden ist, wird im trüben November auf der Nordhalbkugel der Erde durch den Herbst an Vergänglichkeit und Tod erinnert. Vielen tut es weh, an die Menschen zu denken, die sie verloren haben.

Sich zu erinnern tut manchmal weh. Trotzdem ist es wichtig. Mich erinnern zu können, ein Gedächtnis zu haben, das macht mich aus. Zu wissen, woher ich komme, das gibt mir Tiefe. Ich kann auf Erfahrungen zurückgreifen, und das gibt meinem Tun und Lassen Gewissheit. Erinnern zu können, was ich von und mit anderen Menschen gelernt habe, hilft leben. Wer sich nicht mehr erinnern kann, wer sich und alles um sich her vergisst, verliert sich. Ein Volk, das sich an seine Geschichte erinnert, hat Wurzeln und ein Gewissen.

Erinnerungen können aber auch eine Last sein. „Das kann ich ihm nie vergessen.“ Eine Erinnerung, die so in mir brennt, die ist sofort präsent, wenn ich ihm wieder begegne. Und sie macht es unmöglich, dass wir miteinander unvoreingenommen etwas Neues erleben können. Es sei denn, wir können das Alte begraben. Wie kann erinnern so gelingen, dass es gut tut? Ihnen und mir als einzelnen Menschen und unserer jeweiligen Gesellschaft, in der wir leben, im Ganzen?. Wie muss Erinnern sein, damit es nicht nur Vergangenheit fort schreibt, sondern uns verwurzelt und zugleich neue Zukunft eröffnet?

„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Immer wieder wird die Verheißung dieses jüdischen Satzes wiederholt. Und doch: Erinnerung erlöst nicht, wenn sie diejenigen, die sich erinnern, nicht auch in die Zukunft entlässt. Wer im Paradies der Erinnerung verweilt oder der Hölle der Erinnerung nicht entkommen kann, dem bleibt Erlösung verwehrt.

Manche meinen: Wenn es gelingt, das, was war, nicht zu vergessen, aber zu vergeben – dann könnten gestörte Beziehungen, dann könnte vielleicht sogar ein verstörtes und zerstörtes Leben wieder gut werden. Aber sogar wenn man vergeben kann, bleibt eine Beziehung im Ungleichgewicht: Immer wird einer da sein, der vergibt und einer, dem vergeben wurde und der allein schon deshalb immer in der Schuld des anderen stehen wird. Schon allein dieser Sprachgebrauch macht deutlich, wie das ist.

Wie also kann Versöhnung gelingen, die mehr ist als Vergebung und die ein neues Gleichgewicht in den Beziehungen herstellt? Christen glauben, dass das nur da gelingen kann, wo Gott selbst das Leben neu orientiert und uns eben nicht nur Zukunft, sondern auch eine neue Herkunft schenkt. Denn die Herkunft ist es ja eben, die unsere Gegenwart und unsere Zukunft bestimmt. Nur Gott selbst kann uns wirklich neu machen. Jeden von uns. Diejenigen, die nicht vergessen können und diejenigen, die nicht vergeben können.

Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. (2. Korinther 5,17) So hat der Apostel Paulus das Evangelium zusammengefasst, das er den ersten Christen weiter gegeben hat. Gott selbst macht uns zu neuen Menschen – mit allem und trotz allem, was hinter uns liegt. Wenn ich das glauben kann – wenn ich glauben kann, dass das für mich gilt und auch für all die anderen, die sich herumschlagen mit ihren Erinnerungen – dann kann es vielleicht gelingen, sich mit den eigenen Erinnerungen zu versöhnen. Und sich mit dem zu versöhnen, was andere in der Vergangenheit mir angetan haben. So kann ich dann auch das Gute sehen, das es gegeben hat in meinem Leben.

Lobe den Herrn, meine Seele. Und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. So betet ein Mensch, der viel erlebt hat. Sicher nicht nur Gutes. In der Bibel kann man das nachlesen. Bis heute übernehmen viele diese Worte aus dem 103. Psalm. Lobe den Herrn, meine Seele: vielleicht fängt so ein Erinnern an, das uns von der Vergangenheit erlöst und in die Zukunft führt.