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Vor 100 Jahren wurde Solschenizyn geboren

Sabine Peschel
11. Dezember 2018

Sein Monumentalwerk "Der Archipel Gulag" über die brutalen stalinistischen Gefangenenlager machte Solschenizyn weltbekannt. Am 11. Dezember 1918, heute vor 100 Jahren, kam der russische Großschriftsteller zur Welt.

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Alexander Solschenizyn russischer Romanschriftsteller und Historiker
Bild: picture-alliance/dpa

"Die Rettung der Menschheit besteht gerade darin, dass alle alles angeht." Alexander Solschenizyns Worte klingen pathetisch aber wahr, heute vielleicht sogar noch mehr als vor fast 50 Jahren in seiner Rede zum Literaturnobelpreis 1970. Damals konnte er seine Gedanken nicht selber vortragen, er blieb der Verleihung fern, da er befürchtete, nicht in die Sowjetunion und zu seiner Familie zurückkehren zu können. Persönlich in Empfang nehmen konnte er den Preis erst bei seiner Ehrung vier Jahre später im Dezember 1974, als eingetreten war, was der russische Schriftsteller Jahre zuvor befürchtet hatte: seine Ausbürgerung und Abschiebung in die Bundesrepublik Deutschland.

Geteilte Verehrung im Solschenizyn-Jahr in Russland

Das Jahr 2018 hat Präsident Wladimir Putin in Russland zum Solschenizyn-Jahr erklärt. Doch der Umgang mit dem Vermächtnis des großen Wahrheitssuchenden und Mahners Solschenizyn ist zwiespältig in seinem Vaterland. Als "der große Sohn Russlands" im August vor zehn Jahren starb, vereinnahmten ihn der damalige Präsident Dimitrij Medwedew und Putin, erklärten den "Archipel Gulag" sogar zur Schullektüre. Heutzutage, wo Stalin in manchen Kreisen wieder retro-sehnsüchtig verehrt wird, werden Solschenizyn und sein Werk von vielen Russen mit Argwohn betrachtet.

Alexander Solschenizyn, der 1918 im Nordkaukasus zur Welt kam, war Physiklehrer im Gebiet Rostow, ehe er 1941 zur Roten Armee gezogen wurde. 1945 fielen dem Abschirmdienst Feldpostbriefe mit abfälligen Bemerkungen über den sowjetischen Staats- und Parteichef Stalin in die Hände: Acht Jahre Straflager brachte Solschenizyn diese Respektlosigkeit ein. Die ersten vier in einem Spezialgefängnis für Wissenschaftler bei Moskau, 1950-1953 in einem Sonderlager für politische Häftlinge in Kasachstan. Von Stalins Tod erfuhr er 1953 in einem Krankenhaus in Taschkent, in dem er wegen seines Krebsleidens bestrahlt wurde.

Vom Dissidenten zum Schriftsteller

Rehabilitiert wurde er erst 1956. Die Bekämpfung des Sowjetkommunismus und des Sowjetgeheimdienstes KGB mit literarischen Mitteln wurde zu seiner Lebensaufgabe. Seine bereits 1958 vollendete Erzählung "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch", die in der vergleichweise liberalen Literaturzeitschrift "Nowyj Mir" erschien, erregte in der Sowjetunion enormes Aufsehen. Die Erzählung schildert einen ganz gewöhnlichen Tag im Leben eines Lagerhäftlings, voller Details und ungeschönt.

Doch das Chrustschowsche Tauwetter war bald wieder vorbei. Die Zensur ließ lediglich das Erscheinen von Erzählungen zu und verhinderte 1964 Solschenizyns Auszeichnung mit dem Lenin-Orden.

Die Enthüllung des Gulag

Im Mai 1967 forderte Solschenizyn in einem Brief an den IV. Sowjetischen Schriftstellerkongress die Aufhebung der Zensur und die Freigabe seiner Romane "Der erste Kreis der Hölle" und "Krebsstation". Vergeblich, seine Werke konnten nur in Übersetzung bei westeuropäischen und amerikanischen Verlagen erscheinen. Der Konflikt mit dem Schriftstellerverband endete 1969 mit Solschenizyns Ausschluss.

Symbolbild - Gulag
Historische Aufnahme aus einem russischen ArbeitslagerBild: imago

Die Kampagne gegen den unerschrockenen Schriftsteller verschärfte sich, nachdem der KGB das Manuskript des "Archipel Gulag" ausfindig gemacht hatte. Mit den drei Bänden des "Archipel Gulag" (1973-1976) legte Solschenizyn eine fast dokumentarische Darstellung des sowjetischen Lagersystems vor. Er schrieb mit Empathie, heiligem Zorn und bitterer Ironie über das millionenfache Leiden. Die Moskauer Führung tobte.

Das Buch, das in der Sowjetunion nur im Untergrund zirkulierte und heimlich per Schreibmaschinenabschrift vervielfältigt wurde, schlug nach seinem Erscheinen 1974 auch im Westen hohe Wellen. Für viele Intellektuelle war die so genau geschilderte Enthüllung des menschenverachtenden Terrors der Stalinzeit Anlass, die Einstellung zur Sowjetunion grundlegend zu verändern. Massenaustritte aus Kommunistischen Parteien waren die Folge.

Mahner und Moralist - auch im Exil

Der Kölner Schriftsteller Heinrich Böll, der sich in Moskau mit dem für Freiheit kämpfenden Solschenizyn traf, gehörte zu den Menschen, die ein handkopiertes Exemplar des Jahrhundertwerks ins Ausland geschmuggelt hatten. Er empfing seinen Freund nach dessen Ausbürgerung in Köln, gab ihm in seinem Haus in Langenbroich eine vorübergehende Heimstatt. Solschenizyns Weg führte über die Schweiz in die USA, wo er mit seiner Familie auf einer Farm in einer Kleinstadt in Vermont lebte. Hier, in der Zurückgezogenheit des amerikanischen Exils, schrieb er an zwei Mammutwerken: dem bis heute nicht vollständig übersetzten historischen Romanzyklus "Das rote Rad" - 6000 Seiten! - und "März siebzehn", ein Werk, das die Revolutionsgeschichte 'wahrheitsgetreu' darstellen sollte.

Heinrich Böll (GER) und Alexander Issajewitsch Solschenizyn
Zwei Schriftsteller von Weltrang: Heinrich Böll und Alexander Issajewitsch Solschenizyn Bild: Imago/Sven Simon

Solschenizyn wurde auch in den USA zum Mahner und Moralisten. Berühmt wurde seine Harvard-Rede von 1978, in der er den amerikanischen Konsum-Materialismus, aber auch die angeblich defätistische und kompromisslerische Politik Washingtons gegenüber dem Kommunismus geißelte. "Zwischen zwei Mühlsteinen", so beschrieb Solschenizyn in seiner 2005 auf Deutsch erschienenen Autobiographie sein Exildasein zwischen KGB-Verfolgung und den Zwängen der westlichen Welt.

Streiter für ein panslawisches Russland

1994 kehrte der Autor in seine Heimat zurück. Auch dort scheute er die politische Diskussion keineswegs: Er kritisierte die Oligarchen und trat als Fürsprecher der einfachen Russen auf. Der Streiter für Wahrheit und Freiheit betonte immer mehr die Orthodoxie und das Beharren auf einem eigenen russischen Weg. Sein Anspruch auf ein großes Russland, mit dem sich alle ost-slawischen Völker - vor allem auch die Ukraine und Weißrussland - verbinden sollten, prägte Werte, die von der  gegenwärtigen Führung wieder hochgeschätzt sind.

Beerdigung von Alexander Solschenizyn
Trauerfeier für Alexander Solschenizyn im August 2018Bild: picture-alliance/dpa/Y. Kochetkov

Alexander Solschenizyn blieb als großrussisch-nationalistischer Philosoph und Kritiker westlicher Demokratie und Lebensweise politisch eine schwer einzuordnende Figur. Als Moralist verdankt die Welt ihm tiefe Wahrheiten. "Die Linie, die Gut und Böse trennt, verläuft nicht zwischen Staaten, nicht zwischen Klassen und Parteien, sondern quer durch jedes Menschenherz." Bedeutend war er als Schriftsteller, der ohne Furcht die Wahrheit über Gewalt und Menschenverachtung im Sowjetsystem offenbarte.