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Vor 80 Jahren: Beginn der Juden-Deportationen

18. Oktober 2021

Erinnern an die Todestransporte der Nazis. Vor 80 Jahren wurden die ersten Juden vom Gleis 17 in Berlin in den Tod getrieben. Ein Holocaust-Überlebender und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnen.

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Berlin | Holocaust Gedenkveranstaltung am Gleis 17
Bundespräsident Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender legen am Mahnmal Gleis 17 einen Kranz niederBild: Annette Riedl/dpa/picture alliance

Holocaust-Gedenken in Berlin

Frank-Walter Steinmeier legt an diesem sonnigen Herbsttag am Gleis 17 in Berlin eine weiße Rose nieder. Für Hoffnung und gegen das Vergessen an die Millionen Opfer der Nazi-Schreckensherrschaft. Genau vor 80 Jahren deportierten die Nazis von diesem Bahnhof in Berlin-Grunewald aus die ersten Juden in die Ungewissheit, die Entrechtung, ins Leid, den Tod.

Schon seit einem Jahrzehnt wird an jedem 18. Oktober am Gleis 17 der Opfer gedacht: "Damit sie damit aber nicht endgültig vergessen sind, damit ihr Schicksal vielmehr erinnert wird, das Leiden und Sterben der Opfer genauso wie die Untaten der Henker und ihrer Helfer, dafür haben wir Zeiten und Orte, so wie diesen Tag heute und diesen Ort hier", sagt der Bundespräsident.

Familie Michalski mit Bundespräsident Steinmeier
Die Zeitzeugen Franz und Petra Michalski werden von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier begrüßtBild: Volker Witting/DW

In der ersten Reihe sitzen Franz und Petra Michalski; ganz in schwarz. Seit Jahren lassen sie diesen Gedenktag nicht mehr aus. Sie sind Ehrengäste, Zeitzeugen, Opfer der Schoah. "An diesem Tag denken wir an Freunde und Verwandte. Menschen die wir kannten, die noch fliehen konnten oder abtransportiert wurden. Und auch an die, die sich vorher das Leben genommen haben", sagt Petra Michalski. Da spricht sie auch für ihren Mann, den 87-jährigen Franz Michalski, der wegen eines Schlaganfalls nicht mehr so gut reden kann. Er entkam in letzter Minute als Junge nur knapp den Nazischergen und damit dem sicheren Tod.

Im Viehtransporter ins KZ

Die systematische Deportation von Juden aus Deutschland in den Osten begann im Herbst 1941. Also noch Monate vor der Wannseekonferenz, bei der der systematische Mord an Juden akribisch und kaltblütig durchgeplant wurde.

In den amtlichen Dokumenten der Nazis zu den Deportation ist euphemistisch von "ausgesiedelt", "evakuiert" oder "abbefördert" die Rede. In Wahrheit wurden die Menschen von der Deutschen Reichsbahn in den Tod befördert, in die Ghettos, Arbeits- und Konzentrationslager der Nazis. Zunächst wurden sie in ausrangierten Wagen der Reichsbahn transportiert; später in völlig überfüllten Viehtransportern.

Auschwitz-Birkenau 1944 Ankunft Juden
In überfüllten Zügen wurden Juden in die Konzentrationslager transportiert - wie hier 1944 nach Auschwitz-Birkenau Bild: Yad Vashem Photo Archives

Der erste Transport von Berlin aus verließ am 18.Oktober 1941 den Bahnhof-Grunewald; vom Gleis 17. 1089 Kinder, Frauen und Männer wurden von dort aus nach Litzmannstadt (polnisch: Lodz) verschleppt. Am Ende des Naziterrors waren es mehr als 50.000 Juden, die von drei Bahnhöfen aus in Berlin "verladen" und zu Opfern der Nazi-Schreckensherrschaft wurden.

"Das darf nie wieder passieren"

Er ist schon so etwas wie eine Zeitzeugen-Institution. Franz Michalski hat die Schoah überlebt, die Flucht vor den Nazis. So lange er es noch kann, will er von seinen Erlebnissen berichten. In Schulen, bei Konferenzen, in Interviews. Die Deutsche Welle trifft das Ehepaar in ihrer Wohnung in Berlin-Friedenau. Ehefrau Petra übernimmt das Sprechen.

Franz Michalski ist Sohn einer jüdischen Mutter und eines katholischen Vaters. Seine Mutter Lilli konvertiert noch vor der Ehe zum katholischen Glauben. Dennoch; als Sohn Franz 1934 in Breslau zur Welt kommt, ist er - nach der zynischen Rassenlehre der Nazis - ein Kind aus einer "Mischehe".

Die Familie ist wohlhabend. Schon bald werden sie jedoch immer häufiger Opfer von Diskriminierungen: bei der Arbeit, in Geschäften, im Kindergarten. Und dann, genau am Tag des zehnten Geburtstages von Franz Michalski, steht die Geheime Staatspolizei (Gestapo) der Nazis vor der Tür, will die Familie festnehmen und deportieren. In letzter Minuten gelingt ihnen die Flucht. Es ist der Beginn einer langen Odyssee durch Tschechien, Österreich, Sachsen bis nach Berlin, die die Familie mit Glück und vielen Helfern überlebt.

Die stillen Helfer und Helden

Während des Interviews springt Franz Michalski plötzlich auf. Er zieht ein Büchlein aus dem Regal, das er selbst geschrieben hat. Über seine Geschichte, sein Überleben: "Als die Gestapo an der Haustür klingelte." Schnell schlägt er Seite 89 auf. Viel wichtiger, als über sein Buch zu sprechen, ist ihm die Liste auf dieser Seite. Darüber steht: "Meine Stillen Helden". Sechs Namen, die er nie vergessen wird. Sechs Menschen, die ihm und seiner Familie auf der Flucht das Leben gerettet haben.

Schoah Zeitzeugen l Ehepaar Franz und Petra Michalski
Franz und Petra Michalski - Kämpfer gegen das VergessenBild: Volker Witting/DW

Darunter Erna Scharf, das Kindermädchen der Michalskis. Sie nimmt zeitweise Franz und seinen Bruder zuhause auf. Gerda Mez, Arbeitskollegin von Michalskis Vater, organsiert klandestin immer wieder Reisen für die Familie. Ein Polizist gibt ihnen den Hinweis, dass die Gestapo bald die Wohnung stürmen wird. Ihm haben die Michalskis zu verdanken, dass sie gerade noch rechtzeitig flüchten können.

2012 wurden Erna Scharf und Gerda Mez posthum als "Gerechte unter den Völkern" von der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ausgezeichnet. Dafür hat auch Franz Michalski gesorgt. "Man muss nicht studiert haben. Man muss Herzenswärme haben. Man muss Menschenliebe haben. Und man muss schlau sein, dann kann man anderen helfen. Das haben unsere Helfer gemacht. Auch deshalb gehört für uns der Gang zum Gleis 17 einfach dazu, um an die stillen Helfer zu erinnern", sagt Petra Michalski, die genau weiß, wie wichtig die Helfer ihrem Mann sind.

Warnung und Mahnung

"Wir wollen gegen den Antisemitismus aufstehen", sagen die Michalskis. Und berichten dann von einem ihrer Enkel, der vor vier Jahren Opfer eines antisemitischen Angriffs wurde. Der damals 14-Jährige wurde stranguliert und geschlagen; eine Scheinhinrichtung inszeniert. Alles nur wegen seines jüdischen Glaubens. Der Fall machte international Schlagzeilen.

Auch wegen solcher Fälle warnt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Gleis 17 eindringlich: "Nie wieder darf Antisemitismus einen Platz in unserer Gesellschaft haben. Nie wieder dürfen antisemitisches Denken und Handeln ohne Widerspruch und öffentliche Reaktionen bleiben."

"Es passiert immer wieder!"

Die rüstigen und lebensfrohen Michalskis haben solche oder ähnliche Worte schon häufig bei Ansprachen dieser Art gehört. Und sie haben genau verfolgt, dass sich in den letzten Monaten und Jahren die Zahl der antisemitischen Angriffe gehäuft haben. Mit einem Hauch von Resignation merken sie an: "Das (Diskriminierung und Naziterror) soll nie wieder passieren, woran wir aber nicht glauben. Denn seitdem es die Menschheit gibt, passiert es immer wieder!" 

Volker Witting
Volker Witting Politischer Korrespondent für DW-TV und Online