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"Den Staat Europa aufbauen“

Bartosz Dudek / Barbara Cöllen29. September 2013

Der ehemalige polnische Präsident Lech Wałęsa hat Deutschland aufgefordert, mit mehr Krediten finanzschwachen Staaten in Europa zu helfen. Nur wenn Grenzen überwunden werden, könne ein Staat Europa entstehen.

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Leuchtreklame mit dem Bild von Lech Walesa auf dem Lech-Walesa-Flughafen in Gdansk (Danzig) (Foto: Bartosz Dudek)
Ein Bild von Lech Wałęsa am Flughafen Gdańsk, der seinen Namen trägtBild: DW/B. Dudek

DW: Im Gespräch mit der Wochenzeitung "Die Zeit" hatten Sie den Wunsch geäußert, die Deutschen sollten noch mutiger sein und einen größeren Einfluss auf die Entwicklung und Planung in Europa haben. Doch sie sind durch ihr Engagement für Europa in der Krise auch zum Prügelknaben geworden. Angela Merkel ist in griechischen Medien zum Beispiel von Karikaturisten in SS-Uniform dargestellt worden. Was halten Sie von der Europapolitik Deutschlands?

Lech Wałęsa: Es war schon immer so, dass auf die politischen Führer eingeprügelt wurde. Deutschland ist eben ein Schwergewicht - und das in jedem Bereich. Die Deutschen übernehmen aber auch die Verantwortung bei der Bewältigung der Krisen und sie entwickeln Ideen für die Zukunft. Und sie sollen so weitermachen. In der Zeit, in der wir Grenzen abschaffen, geht es um das Europäische, nicht um das Deutsche oder Polnische. Es geht nur um Europa. Wir sollten nicht mehr in Kategorien von Staatsgrenzen denken. Es gibt viele neue, zeitgemäße Themen wie Information, Ökologie, Krisen, wie die Bankenkrise. Hier geht es nicht mehr um eine Bank, sondern um ein verantwortungsvolles Handeln der Banken allgemein. Dann gibt es noch Geldfragen: Deutschland hat es, die anderen nicht. In Europa brauchen wir beispielsweise ein gutes Autobahnnetz, auch in Albanien. Dort und woanders fehlt das Geld dafür, also sollte Deutschland das übernehmen und dann im Laufe von 50 Jahren das Geld wieder zurückbekommen. Das Geld darf nicht in Sparstrümpfen aufbewahrt werden.

In Bezug auf Deutschland werden auch fast 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges viele Stereotypen und Vorurteile belebt. Würden diese nicht stärker werden, wenn die Deutschen jetzt anfangen, überall Autobahnen zu bauen?

Aber nein. Für die europäische Integration brauchen wir Wohlstand in Europa. Konflikte vermeiden können wir nur, indem wir zum Beispiel überall Autobahnen bauen, denn dann wird sich die Lage überall verbessern. Es gibt eine ganze Menge von Aufgaben, wie zum Beispiel Kommunikationsnetze. Staaten, die Geld besitzen, sollten es auch für ärmere bereitstellen und es sich langsam zurückzahlen lassen. Das ist ein gutes Geschäft für alle Beteiligten. Diese Generation sollte anfangen, den Staat Europa aufzubauen, aber dabei ganz behutsam vorgehen.

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Wie soll sie genau vorgehen?

Keiner weiß das so richtig. Um das zu erreichen, brauchen wir größere europäische Strukturen. Teilungen und Grenzen gehören der Vergangenheit an. Wir werden bei fast allen unseren Aktivitäten noch von Kriegen und der Erinnerung daran eingeholt. Aber langsam entfernen wir uns auch davon. Es ist ein mühsamer Prozess, wir sind jedoch ganz weit vorangekommen. Wichtig ist, dass wir das vereinigte Europa auf einheitlichen Werten aufbauen, die momentan aber noch von Land zu Land unterschiedlich sind. Wir sollten eine Art Wertekatalog entwickeln, eine Art Dekalog mit zehn Geboten, der von Gläubigen aller Religionen und Atheisten gemeinsam entwickelt wird. Auf dieses Fundament sollte sich die Entwicklung des zukünftigen Europa stützen.

Viele Länder Ost- und Südeuropas beneiden Polen für den demokratischen Wandel und die wirtschaftlichen Fortschritte der letzen zwei Jahrzehnte, zu denen Sie wesentlich beigetragen haben. Trotzdem sind Zehntausende Polen unlängst in Warschau auf die Straße gegangen, um gegen die Politik der liberalen Regierung von Donald Tusk zu demonstrieren. Der national-konservative Oppositionsführer Jaroslaw Kaczyński führt zurzeit in den Umfragen. Was ist los mit den Polen?

Erstens: Wir hatten keine 100 Jahre für die Entwicklung der Demokratie und mussten maximal beschleunigen, um den Westen einzuholen. Bei solch einer Beschleunigung sammelt sich vieles an. Zweitens: Was sind Hunderttausend gegenüber 40 Millionen? Hätten wir in jedem anderen Land, auch in den reichen Staaten, die Unzufriedenen versammelt, dann bin ich mir sicher, dass die Proteste ein noch größeres Ausmaß hätten. Drittens: Unsere Demokratie hat sich bewährt. Es wurde zwar protestiert, aber es waren ausschließlich friedliche Proteste. Man hat Unterschriften gesammelt und die Quittung für die Unzufriedenheit der Bürger wird bei den nächsten Wahlen ausgestellt. Also hat Polen mit seiner Demokratie die Bewährungsprobe bestanden und kann als Vorbild gelten, wie man mit Unzufriedenheit umgeht.

Sie feiern am Sonntag (29. September) Ihren 70. Geburtstag. Rückblickend weiß man, dass Sie zum Sturz des Kommunismus wesentlich beigetragen haben. Heute gibt es immer noch viele Diktaturen, die ihre Bürger verfolgen, sogar töten. Was ist Ihr Rezept, wie kann man eine Diktatur bezwingen?

Mein Rezept heißt: Solidarität. Natürlich wird diese Solidarität von Land zu Land verschieden sein. Besonders wichtig ist es auch, dass man die USA, die einzige verbliebene Supermacht, ermutigt zu helfen, die Welt so neu aufzustellen, dass man überall, wo Antisemitismus, Rassismus, ethnische Säuberungen oder Chemiewaffen auftauchen, sofort agiert und Probleme beseitigt.

Der gelernte Elektriker Lech Wałęsa wurde 1980 in Gdańsk (Danzig) zum Anführer von Solidarność ("Solidarität"), der ersten freien Gewerkschaft im kommunistischen Ostblock. 1983 wurde er mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Bei den ersten freien Wahlen in seiner Heimat nach dem Sturz des Kommunismus wählten ihn die Polen 1990 zum Staatspräsidenten.

Das Gespräch führten Barbara Cöllen und Bartosz Dudek.