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Literatur

Walt Whitmans Nähe zu Deutschland

Louisa Schaefer
10. September 2021

Literaturwissenschaftler haben bisher unbekannte Texte des US-Dichters Walt Whitman entdeckt. Sie zeigen eine unerwartete Affinität zur deutschen Kultur.

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USA Walt Whitman Dichter 1866
Walt Whitman 1866Bild: picture-alliance/Heritage Images

Der Dichter, Essayist und Journalist Walt Whitman - gern als Vater der freien Verse bezeichnet - hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf die Poesie in den Vereinigten Staaten. Sein berühmtestes Werk "Leaves of Grass" ("Grashalme") löste bei der Erstveröffentlichung im Jahr 1855 eine Kontroverse aus, die unter anderem von der unverhohlenen Sinnlichkeit des Werks ausgelöst wurde. 

Walt Whitman wurde 1819 in West Hills, New York, geboren und verbrachte den größten Teil seines Lebens in Brooklyn. Er verließ die Schule bereits mit elf Jahren und wurde dennoch Journalist, Lehrer, Regierungsbeamter - und Dichter. So  konnte er 1855 die Veröffentlichung von "Leaves of Grass"  finanzieren.

Schwarz-weiß Fotografie von Walt Whitman im Anzug als junger Mann
Walt Whitman mit 28 Jahren in New Orleans (1948)Bild: gemeinfrei

1848 lebte Whitman für drei Monate in New Orleans und half dort bei der Gründung der Zeitung "Daily Crescent". Danach verließ er die Stadt im Süden der USA und kehrte nach New York City zurück. Bislang ging die Whitman-Forschung davon aus, dass seine Beiträge für die Zeitung  damit endeten.

Doch nun haben die Literaturwissenschaftler Stefan Schöberlein von der Marshall University in Huntington (West Virginia, USA) und sein Kollege Zachary Turpin von der University of Idaho herausgefunden, "dass Whitman weiterhin Texte per Post beisteuerte: sowohl Korrespondenz unter dem Pseudonym 'Manhattan' als auch weitere Teile einer humorvollen Serie von Skizzen, die er während seiner Zeit in der Zeitung begonnen hatte".

Das bedeutet, dass sie "einen bedeutenden Vorrat an bisher unbekannten Texten" Whitmans entdeckt haben, die ursprünglich für den "Daily Crescent" in New Orleans geschrieben wurden.

The Daily Crescent Whitman-Brief vom 6. November 1848
Die Titelseite des "The Daily Crescent" vom 6. November 1848 mit einem der "Manhattan-Briefe" Walt WhitmansBild: Public domain via the Library of Congress


"Diese neu entdeckten Texte erstrecken sich über einen Zeitraum von sechs Monaten und bieten einen faszinierenden Einblick in Whitmans alltägliche Aktivitäten, politische Ideen und Einstellungen etwa zum Thema "Rasse" - was zu Whitmans Lebzeiten "ein wenig in Geheimnisse gehüllt war", so Stefan Schöberlein in einer E-Mail an die Deutsche Welle. Ihre Ergebnisse haben die beiden Philologen soeben in der "Walt Whitman Quarterly Review" veröffentlicht.

Bedeutendster Whitman-Fund seit Jahren

Nachdem sie eine Reihe von Briefen entdeckt hatten, die im "Crescent" veröffentlicht worden waren, und die "sehr nach Whitman" klangen, nutzten die Forscher eine Computeranalyse, um zu prüfen, ob der Duktus in den Texten der Sprache des Autors entsprach.

Und tatsächlich "entpuppten sie sich als die fast 50 Manhattan-Briefe, die wir jetzt identifiziert haben", sagte Schöberlein, Und fügte hinzu: "Diese Texte sind eine der bedeutendsten Wiederentdeckungen von Whitmans Texten in den letzten Jahren. Sie verändern grundlegend, wie wir Whitmans Beziehung zu New York und seine Aktivitäten in diesem entscheidenden Jahr 1848 verstehen."

Whitmans Deutschland-Affinität

Aus den neu entdeckten Texten geht auch hervor, dass Whitman die Entwicklungen in Deutschland aufmerksam verfolgte. 1848 und 1849 war Deutschland in eine Reihe von Umwälzungen verwickelt, mit der die europäische Geschichte neu geschrieben wurde. "In seinen Briefen nach seiner Rückkehr nach New York sehen wir, dass er den Revolutionen von 1848 in den verschiedenen deutschen Kleinstaaten Aufmerksamkeit schenkte."

Gemälde der Revolution von 1848 in Berlin
Jubelnde Revolutionäre nach Barrikadenkämpfen im März 1848 in BerlinBild: Geminfrei

Als der berüchtigte badische Revolutionär Friedrich Hecker im Oktober 1848 in seinem New Yorker Exil eintrifft, ist Whitman dabei, um ihn anzufeuern und die deutsche republikanische Fahne zu grüßen", erklärt Stefan Schöberlein. Friedrich Hecker gehörte zusammen mit Gustav von Struve und anderen Radikalen zum "Hecker-Aufstand" - einem Versuch im April 1848, die deutsche Monarchie zu stürzen und im Großherzogtum Baden eine Republik zu errichten.

Ein Fan der deutschen Klassik 

Doch Whitman interessierte sich nicht nur für die deutsche Politik, sondern auch für die Kultur in Deutschland, so Schöberlein nach Auswertung der Manhattan-Briefe.Wir wussten schon immer, dass Whitman italienische Opern liebte - aber jetzt wissen wir, dass er auch deutsche und österreichische Musik liebte. Er hörte mit Begeisterung Aufführungen von Beethoven, Strauss, Mendelssohn und Spohr durch Joseph Gungls Deutschen Musikverein an. Besonders angetan war er von einem jungen Geiger namens Ikelheimer. Nur wenige Wochen später schwärmt er von Lenschows 'Germania'-Truppe".

Auch setzt sich Whitman in den Manhattan-Briefen mit der europäischen Emigration und der einwanderungsfeindlichen Stimmung in den USA auseinander. "Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht Hunderte von armen Einwanderern aus Europa an unseren Kais landen; einige zweifellos, um in Krankheit oder Armut unterzugehen, aber die meisten, das kann ich mit Freude sagen, um einen Anfang zu machen, der sie in bessere Zeiten und weitaus mehr Komfort bringt", schreibt der Dichter und Journalist Walt Whitman.

Noch heute relevant

Auch neben dem enormen literarischen Einfluss des Dichters sei Whitman heute noch aktuell, unterstreicht Stefan Schöberlein. "Wenn ich Whitman lehre, bin ich immer wieder erstaunt, wie aktuell er erscheint, oft auf unerwartete Weise", so Schöberlein. "Auf dem Höhepunkt der ersten COVID-Welle diskutierten meine Studenten und ich eines von Whitmans Prosastücken, in dem es darum geht, wie man dem Massensterben im Bürgerkrieg Rechnung tragen könnte. In derselben Woche versuchte die "New York Times" dasselbe auf ihrer Titelseite, Thema war das Sterben in der Pandemie."

Walt Whitman sitzt mit Bart am Tisch und stützt mit seiner linken Hand den Kopf auf (schwarz-weiß Fotografie)
Nicht nur ein "alter weißer Mann" - Walt Whitman mit etwa 50 Jahren Bild: gemeinfrei

Nun könnte man argumentieren, dass Walt Whitman nur ein weiterer "alter weißer Mann" des literarischen Kanons ist, und dass zeitgenössische Verse von Dichterinnen wie  Amanda Gorman oder der Indien geborenen kanadischen Dichterin Rupi Kaur mehr Aufmerksamkeit verdienen. Aber das würde seiner Poesie nicht gerecht, findet Schöberlein. "Ich lese oft eines von Whitmans weniger bekannten Liebesgedichten im Unterricht und freue mich über die Überraschung in den Gesichtern meiner Schüler, wenn sie erkennen, dass das ganze Stück völlig geschlechtsneutral ist - was sich für sie so nahtlos anfühlte, dass sie es zunächst nicht bemerkten."

Whitman sei ein undogmatischer politischer und philosophischer Denker gewesen, "der in der Lage war, seine eigenen persönlichen Vorurteile beim Schreiben zu überwinden - und zwar in einem Maße, das wirklich bemerkenswert ist", sagt Schöberlein. So sei Whitmans Grundthese, dass Demokratie vor allem eine Reihe von Einstellungen und Verhaltensweisen sei, eine Art und Weise, die Welt zu sehen und in ihr zu leben, für ihn eine "wirklich wichtige Erkenntnis". Und über die Poesie Witmanns gesprochen: "Es gibt einfach etwas an diesem grandiosen Amateurdichter, der beschloss, das Universum in Slang und Anspielungen zu erklären, das immer noch äußerst erfrischend wirkt."

Aus dem Englischen adaptiert von Sven Töniges