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Warum liefert Deutschland keine schweren Waffen?

Robert Mudge
24. April 2022

Die Kritik an Bundeskanzler Olaf Scholz reißt nicht ab. Ihm wird vorgeworfen, die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine hinauszuzögern. Die DW beleuchtet einige der Hauptstreitpunkte.

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Deutsche Panzer vom Typ "Marder"
Deutsche Panzer vom Typ "Marder": Werden sie künftig in der Ukraine eingesetzt? Bild: Armin Weigel/dpa/picture alliance

Die deutsche Regierung hat mehrere Gründe angeführt, warum sie keine schwere Waffen an die Ukraine liefert. Sind diese Begründungen stichhaltig?

Deutschland folgt einfach dem Beispiel seiner Verbündeten

Das ist das Mantra von Bundeskanzler Olaf Scholz seit Ausbruch des Krieges. Er tue alles in enger Abstimmung mit den NATO- und EU-Partnern, wie er sagt. Bei einer Pressekonferenz am Dienstag wies er darauf hin, dass Länder wie Kanada, Großbritannien und die Vereinigten Staaten die gleichen Waffen wie Deutschland liefern würden.

Doch am Donnerstag (21. April) kündigten die USA ein neues Militärhilfepaket im Wert von 800 Millionen US-Dollar (740 Millionen Euro) für die Ukraine an, darunter auch für schwere Artillerie. Damit haben die USA seit dem Beginn der russischen Invasion am 24. Februar insgesamt mehr als drei Milliarden Dollar an Hilfe geleistet.

Im Gegensatz dazu beliefen sich die deutschen Ausgaben für die militärische Verteidigung der Ukraine nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums - Stand Anfang April - auf rund 186 Millionen Euro. Damit wurden vor allem Panzerfäuste, Flugabwehrraketen, Maschinengewehre, Munition und Schutzausrüstung gekauft - aber keine schweren Waffen.

Doppelte Botschaft von Scholz

Professor Carlo Masala, Verteidigungs- und Sicherheitsexperte an der Bundeswehr-Universität München, sagt, dass Scholz damit einerseits eine Botschaft an Russland übermittle. Andererseits sei es auch ein Signal an die deutsche Bevölkerung und an die Partei von Olaf Scholz, die Sozialdemokraten, die das Thema intensiv debattierten. "Er [Scholz, Anmerk. der Redaktion] braucht all die Leute, die keine schweren Waffen liefern wollen, weil sie denken, dass dies den Konflikt eskalieren und Deutschland zum Ziel russischer Aktivitäten werden wird", sagt er der DW.
Das ist zwar eine berechtigte Sorge, lässt sich aber nur schwer mit der Nachricht vereinbaren, dass mehrere westliche Länder, darunter die USA, Großbritannien und die Niederlande, schwere Waffen geliefert haben, wie die ukrainische Abgeordnete Lesia Vasylenko kürzlich twitterte.

Auch Tschechien hat Berichten zufolge die Lieferung von mehreren Dutzend sowjetischen T-72-Panzern und BMP-1-Schützenpanzern zugesagt. Die USA kündigten vergangene Woche an, dass sie in Kürze elf Hubschrauber des Typs Mi-17 aus russischer Produktion, 200 gepanzerte Mannschaftstransporter des Typs M113 und 90 155-mm-Feldhaubitzen mit 40.000 Artilleriegranaten schicken würden, die alle als schwere Waffen gelten. Frankreich kündigte am Freitag an, die Haubitze Caesar (Kaliber 155 Millimeter), ein schweres Artilleriegeschütz, zur Verfügung zu stellen. Auch die Niederlande wollen Panzerhaubitzen an die Ukraine liefern. Das teilte Verteidigungsministerin Kajsa Ollongren am Freitag in Den Haag mit. 

Gemäß dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa gelten alle Panzer und gepanzerten Fahrzeuge sowie alle Artilleriegeschütze mit einer Stärke von 100 mm und mehr als schwere Waffen. Auch Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber werden als schwere Waffen eingestuft.

Die Bundeswehr stößt an ihre Grenzen

Deutschland erklärte, es sei nicht in der Lage, der Ukraine weitere Militärhilfe zukommen zu lassen, weil es dann seinen Verpflichtungen nicht nachkommen könne. "Um die Einsatzfähigkeit unserer Armee zu gewährleisten, brauchen wir die Waffensysteme", sagte der stellvertretende Generalinspekteur Markus Laubenthal am dem ZDF. Der Marder-Schützenpanzer etwa werde für nationale und NATO-Verpflichtungen benötigt.

Der Marder ist ein Kampfsystem, das Lenkflugkörper, Handwaffen und Munition umfasst und eine umfangreiche Ausbildung erfordert. Obwohl die Ausbildungszeit verkürzt werden könnte, "handelt es sich immer noch um Wochen, und die Ausrüstung muss vorbereitet werden", sagte Laubenthal. Er reagierte damit auf die Äußerungen des ukrainischen Botschafters in Deutschland, Andrij Melnyk, der zu den schärfsten Kritikern des Berliner Vorgehens gehört.

Nur ein Vorwand?

"Die Behauptung, die Bundeswehr sei nicht in der Lage, der Ukraine etwas zu liefern, ist nicht nachvollziehbar", sagte Melnyk kürzlich. Die Truppe verfüge über rund 400 Marder. Davon würden etwa 100 zu Ausbildungszwecken genutzt und könnten daher sofort an die Ukraine übergeben werden, fügte er hinzu.

Verteidigungsexperte Masala glaubt, die Regierung benutze diese Aussage nur als Vorwand. "Wenn die Verteidigung des NATO-Territoriums von, sagen wir, 20 deutschen Panzern abhängt, dann sollten wir gar nicht erst versuchen, das NATO-Territorium zu verteidigen, denn das wäre eine Katastrophe", erklärt er.

Können die Ukrainer die Waffen bedienen? 

Die Regierung argumentiert, dass die ukrainischen Soldaten nur mit Waffen umgehen können, mit denen sie vertraut sind. Dazu gehört auch die Logistik, um Reparaturen mit den entsprechenden Ersatzteilen durchführen zu können.

Masala hält dies für eine berechtigte Sorge. "Was passiert, wenn es ein technisches Problem mit dem Marder gibt?" Dennoch hält er einen Einsatz für sinnvoll. "Wenn sie den Marder drei Wochen lang benutzen können, ist das besser als nichts. Wenn der Marder kaputt geht, dann ist das eben Pech", sagt er. "In der Zwischenzeit können wir an der logistischen Kette für die Lieferung von Ersatzteilen arbeiten. Also noch einmal, es sieht für mich wie ein Vorwand aus, sie nicht zu schicken, weil es eine politische Entscheidung ist, keine schweren Panzer in die Ukraine zu schicken."

Prof. Dr. Carlo Masala, Professor für Internationale Politik
Carlo Masala, Professor für Internationale PolitikBild: unibw.de

Der ehemalige NATO-General Hans-Lothar Domröse weist sogar die Behauptung zurück, dass für die Beherrschung der Marder-Kampffahrzeuge eine umfangreiche Ausbildung erforderlich sei. "Wir reden hier über erfahrene ukrainische Kommandeure, die seit 2014 im Einsatz sind. Denen muss man nicht erklären, wie man sie einsetzt. Diejenigen, die das sowjetische Modell BMP-1 benutzt haben, können sich in weniger als einer Woche mit dem Marder vertraut machen und ihn bedienen", sagte er dem WDR.

Die Antwort Berlins: Mehr Geld 

Scholz sagte, Berlin stelle mehr als eine Milliarde Euro zur Verfügung, damit die Ukraine den Kauf von militärischer Ausrüstung aus Deutschland finanzieren könne. Als Beispiele nannte er Panzerabwehrwaffen, Flugabwehrgeräte und Munition, erwähnte aber nicht die von der Ukraine geforderten Panzer und Flugzeuge.

Die Bild-Zeitung berichtete, dass deutsche Rüstungsunternehmen zunächst angeboten hatten, schwere Waffen wie Marder, gepanzerte Boxer-Fahrzeuge, Leopard-2-Panzer und Panzerhaubitzen zu liefern. Nach Angaben der Boulevardzeitung scheinen diese jedoch inzwischen von der Liste gestrichen worden zu sein.

Deutschlands Waffenlieferungen an die Ukraine

"Es stehen einige schwere Waffen auf der Liste, aber definitiv keine Panzer. Panzer scheinen also im Moment eine rote Linie für die deutsche Regierung zu sein. Ob wir diese rote Linie einhalten können, hängt natürlich sehr stark von der Entwicklung des Krieges in den nächsten Wochen oder Monaten ab", so Masala.

Bestände anderer Länder auffüllen

Die Kritik an der deutschen Verzögerungstaktik scheint Wirkung zu zeigen. Außenministerin Annalena Baerbock sagte kürzlich auf einer Pressekonferenz in Estland: "Es gibt für uns keine Tabus, wenn es um gepanzerte Fahrzeuge und andere Waffen geht, die die Ukraine braucht", und spielte damit auf die mögliche Lieferung von Marder-Fahrzeugen an.

Der Ausweg für Deutschland scheint der Plan zu sein, waffenliefernde Länder mit neuem Kriegsgerät oder Geld auszustatten. Sprich: Die Länder, die Waffen liefern, erhalten von Deutschland eine Kompensation. Da die deutschen Bestände angeblich erschöpft sind, würden osteuropäische NATO-Länder, die noch über Waffen aus der Sowjetära verfügen, diese Waffen zur Verfügung stellen, wie es bereits in mehreren Fällen geschehen ist, so Oberst a.D. Wolfgang Richter, Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht bestätigte vergangenen Donnerstag den geplanten Austausch mit der NATO und der EU. "Wir reden über Panzer, Schützenpanzer." Die Bundesregierung sei in Gesprächen, das gehe jetzt sehr schnell, sagte Lambrecht dem Privatsender RTL/n-tv.

Ringtausch mit Slowenien?

Eine Option, an der die Regierung arbeitet, ist ein Austausch mit Slowenien. Der NATO-Partner würde einige seiner T-72-Kampfpanzer aus der Sowjet-Ära in die Ukraine schicken; zum Ausgleich würde Deutschland Slowenien dann Marder aus seinen eigenen Beständen zur Verfügung stellen.

Waffen für die Ukraine: Militärexperte

Eine weitere Lösung wird Berichten zufolge mit den Niederlanden ausgehandelt. "Die Niederlande werden die Panzerhaubitze 2000 schicken, eine hochmoderne deutsche Waffe, und wir werden [die Ukrainer] mit Munition und Ausbildung versorgen, wahrscheinlich auf deutschem Boden", so Masala.

Dieser Ansatz könnte einen Teil des Drucks abbauen und Kritik ablenken. Wie Masala jedoch betont, wird dieser Zustand nicht lange halten. "Unseren osteuropäischen Partnern gehen die alten sowjetischen Waffen aus. Und die sowjetischen Panzer, die Polen, die Slowakei oder Slowenien geschickt haben, werden in diesem Krieg zerstört werden", sagt er. "Auch der Ukraine werden diese Waffen ausgehen. Irgendwann wird sich die Frage wieder stellen, ob wir die Ukrainer ausbilden und moderne westliche Waffensysteme liefern sollen."

Aus dem Englischen adaptiert von Stephanie Höppner.