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Warum der Holocaust uns heute beschäftigt

Birgit Goertz27. Januar 2013

Ein Gespräch mit der Antisemitismus-Forscherin Juliane Wetzel. Sie erklärt, dass wir längst nicht alles über den Holocaust wissen und wie sich Antisemitismus heute äußert.

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Ein Mann stellt am Donnerstag, 27. Jan. 2005, eine Kerze an der ehemaligen Laderampe der Deutschen Reichsbahn in Berlin auf, von wo aus die Nazis Berliner Juden in das Konzentrationslager Auschwitz deportierten. (Foto: AP)
Kerzen an der ehemaligen Laderampe der Deutschen Reichsbahn in Berlin auf, von wo aus die Nazis Berliner Juden in das Konzentrationslager Auschwitz deportierten.Bild: AP

Juliane Wetzel erforscht seit vielen Jahren die verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus und des Rechtsextremismus im In- und Ausland. Sie arbeitet am Zentrum für Antisemitismus-Forschung der TU Berlin und ist Koordinatorin des unabhängigen Expertenkreises, der dem Bundestag regelmäßig Bericht erstattet zum Antisemitismus in Deutschland.

DW: Die Schrecken des NS-Staates sind nun seit fast 68 Jahren Geschichte. Ist inzwischen nicht zur Genüge geforscht? Weiß man nicht schon alles über den Holocaust?

Juliane Wetzel: Nein, man weiß natürlich nicht alles über den Holocaust. Es gibt eine Reihe von Feldern, die wenig bis gar nicht erforscht sind. Das liegt daran, dass zum Teil erst jetzt die Archive geöffnet werden. Ein Beispiel: Man geht – und das ist auch mit dem Symbol Auschwitz verknüpft – immer davon aus, dass die meisten Juden in den Vernichtungslagern umgekommen sind. Das ist so nicht der Fall. Rund zwei Millionen Juden sind bei Massenerschießungen auf dem Gebiet der damaligen Sowjetunion ermordet worden [nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 und die darauf folgende Besetzung weiter Teile der Sowjetunion, Anm. d. Red.]. Das geschah, bevor die Vernichtungslager in Gang gesetzt wurden. Wir wissen, kennen nicht einmal genau die Orte, an denen das geschah. Es gibt Organisationen, die jetzt erst anfangen zu graben. Das alles sind weiße Flecken in der Geschichte des Holocaust.

Ein Berg aus Knochen und menschlichen Schädeln: Das KZ Majdanek in der Nähe der polnischen Stadt Lublin nach der Befreiung 1944 durch sowjetische Truppen (Foto: Getty images)
Das KZ Majdanek in der Nähe der polnischen Stadt Lublin nach der Befreiung 1944 durch sowjetische TruppenBild: Getty Images

Andere Fragen, andere Zugänge

Aber die Fragen, die sich heute stellen, sind zweifellos andere als früher.

Die Forschung der vergangenen Jahre fragt: Was haben die Menschen damals von den Massentötungen der Juden gewusst? Was wussten sie vom Holocaust. Lange wurde kolportiert, die Menschen in Deutschland hätten das nicht wissen können, weil die Orte des Geschehens so weit weg waren. Man wies zumeist weit von sich, dass viele Gerüchte und Informationen zum Beispiel durch Feldpostbriefe verbreitet wurden. Jüngste Publikationen zeigen etwas anderes: Nämlich wie viel die Menschen doch wussten, auch wenn vieles nur im Ungefähren war. Aber man konnte sich schon ein Bild machen, wenn man wollte.

Zyklon B war ursprünglich ein Schädlingsbekämpungsmittel auf der Basis von Blausäure. Die SS setzte es in Auschwitz-Birkenau zur massenhaften Ermordung der KZ-Häftlinge ein. (Foto: dpa)
Zyklon B war ursprünglich ein Schädlingsbekämpungsmittel auf der Basis von Blausäure. Die SS setzte es in Auschwitz-Birkenau zur massenhaften Ermordung der KZ-Häftlinge einBild: picture-alliance/ ZB

Nicht nur die Fragen, die sich heute stellen, sind andere. Auch die Zugänge zum Thema Holocaust. Wie bringt man der jungen Generation das Thema nahe?

Viele junge Menschen glauben, sie wüssten alles über den Holocaust. Tatsächlich aber fußt ihr Wissen nur auf ein, zwei Spielfilmen. In Wahrheit sind sie aber nicht in die Materie eingedrungen und haben sich nicht damit auseinandergesetzt.

Die sogenannte Holocaust Education, ein Wort, das sich international eingebürgert hat, hat sich stark geändert. In den 1970er und 1980er Jahren war der Unterricht stark von der Betroffenheitspädagogik dominiert. Den jungen Menschen wurde eine Bürde auferlegt, die sie nicht tragen konnten und nicht tragen mussten. Das hat sicher auch bei vielen zu der Reaktion geführt, dass sie sagten: "Ich will nichts mehr davon hören." Das wichtigste heute ist, dass man nicht immer mit dem moralischen Zeigefinger daherkommt, sondern das historische Wissen vermittelt. Das ist die Basis und daran fehlt es in vielerlei Hinsicht immer noch – oder wieder, muss man vielleicht sagen.

Man muss mit den Schülern auch über Fragen diskutieren, wie: Was wusste man? Was konnte man wissen? Wie stark war der Verdrängungsmechanismus nach 1945 und wie deutlich hat das die Geschichte der Bundesrepublik dominiert und warum? Das heißt: Wir dürfen nicht mit 1945 aufhören, sondern müssen uns die Wichtigkeit des Themas auch bei heutigen politischen Entscheidungen klar machen.

Antisemitismus heute

Im jüngsten Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus an den Deutschen Bundestag listen Sie verschiedene Erscheinungsformen des Antisemitismus heute auf. Wie sehen die aus?

Da haben wir den sogenannten sekundären Antisemitismus, für den auch die Formel "Antisemitismus wegen Auschwitz" verwendet wird. ["Mit dem Begriff … werden im Allgemeinen verschiedene Phänomene bezeichnet, die sich aus dem Bedürfnis nach Schuldabwehr … ergeben." Dazu gehören der Vorwurf einer jüdischen Mitschuld an der Verfolgung und "die Behauptung, die Erinnerung an den Holocaust diene zur Erpressung finanzieller Mittel", aus dem Bericht des Expertenkreises 2012]. Das sind genau die Formen, die zeigen, dass man den Holocaust verdrängt oder sich nicht mit Schuld und Scham auseinandersetzen will. Und schon gar nicht mit der Verantwortung, wenn man Juden unterstellt, sie würden immer wieder ihre Rolle als Opfer betonen, um Vorteile zu erzielen. Sie würden durch die Geschichte die US-amerikanische oder auch die deutsche Politik dominieren. Diese Unterstellungen kommen in vielen Facetten immer wieder an die Oberfläche.

Die andere aktuelle Erscheinungsform des Antisemitismus ist der Israel-bezogene Antisemitismus. Sie liegt dann vor, wenn Grenzen zwischen einer völlig legitimen Kritik an der israelischen Politik oder am Vorgehen des israelischen Militärs im Gaza-Streifen, die kein Tabu ist, überschritten werden. Das ist dann der Fall, wenn zum Bespiel die israelische Politik mit dem Holocaust gleichgesetzt wird, in dem man sagt: "Die Israelis machen das mit den Palästinensern, was die Deutschen damals mit den Juden machten." Dann findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt: Die einstigen Opfer werden zu Tätern stilisiert. Diese beiden Formen des Antisemitismus sind die dominanten Formen in Deutschland.

Eine Frau trägt ein Schild mit der Aufschrift: "Wir lieben unser Multikulti - mit allen Religionen - ohne Rassismus!" (Foto: dpa)
Gegen Antisemitismus, Rassismus und FremdenfeindlichkeitBild: picture alliance / dpa

Historische Aufarbeitung reicht nicht

Wen sehen Sie in der Pflicht, um diese heutigen Formen des Antisemitismus zu bekämpfen. Politik, Zivilgesellschaft oder jeden individuell?

Es gibt ein Zusammenspiel zwischen Politik, Gesellschaft und besonders den Bildungseinrichtungen. Die Politik kann Zeichen setzen und sich deutlich gegen jegliche Formen des Antisemitismus positionieren. Sie hat die Expertenkommission eingesetzt, um Daten zu erheben.

Diese Grundlagen müssen in Bildungspolitik umgesetzt werden, nicht nur in historisch-politischer Bildung. Die Materialien, die auch wir beim Zentrum für Antisemitismusforschung erstellen, müssen auch auf die heutigen Erscheinungsformen abzielen. Wir müssen die Lehrer fortbilden, damit sie ihr Wissen an ihre Schüler weitergeben können. Denn die meisten nehmen Antisemitismus immer nur dann wahr, wenn es sich um den Antisemitismus des Nationalsozialismus dreht, aber nicht, wenn es um die aktuellen Formen geht.

Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin (Foto: dpa)
Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU BerlinBild: picture-alliance/dpa