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Literatur

"Ich hatte schon immer eine alte Seele"

Sabine Peschel
30. September 2017

Wie schreibt es sich an einem Ort, an dem man sich nicht zuhause fühlt? In einer Gesellschaft, in der die Rechte und Möglichkeiten eingeschränkt sind, muss man anders erzählen, sagt Amanda Lee Koe aus Singapur.

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Amanda Lee-Koe
Bild: privat

Amanda Lee Koe lebt als Schriftstellerin in Singapur und New York. Die 29-Jährige arbeitet als Literaturredakteurin für den "Esquire" und das Literaturjournal "Ceriph". Ihr Debütroman "Ministerium für öffentliche Erregung" stand auf der Shortlist des Internationalen Literaturpreis 2017. Die Autorin war im September Gast des Internationalen Literaturfestivals in Berlin.

DW: Sie erzählen Geschichten von Menschen am Rand der Gesellschaft. Wie finden Sie Ihre Protagonisten?

Amanda Lee Koe: Besonders an einem Ort wie Singapur, wo es eine Art von festgelegtem nationalen Narrativ gibt, ist es wichtig, aus einer anderen, nicht vom Mainstream geprägten Perspektive zu erzählen. Für mich war das eigentlich ganz natürlich, weil solche gesellschaftlichen Außenseiter in der für Singapur typischen Literatur nicht oft vorkommen. Es war nicht schwer für mich, so zu schreiben, weil ich mich nie wirklich in Singapur zuhause gefühlt habe. Es fällt mir leicht, mit Figuren, die eher am Rand der Gesellschaft stehen, zu sympathisieren.

Sie wurden in Singapur geboren, leben jetzt aber in zwei Städten, in New York und Singapur. Wo verbringen Sie mehr Zeit?

Ich bin vor fast vier Jahren nach New York gezogen und seitdem viel hin- und hergereist. Ich kann gar nicht sagen, wo ich mehr Zeit verbringe. Im Moment fühlt es sich für mich wie eine gespaltene Existenz an. Es ist manchmal ziemlich seltsam, denn wenn man an dem einen Ort ist, sieht man den anderen immer viel klarer. Deshalb ist es interessant, beide Perspektiven einnehmen zu können.

Beeinflusst die Tatsache, dass Sie an zwei völlig unterschiedlichen Orten mit ganz unterschiedlichen Traditionen leben, Ihr Schreiben?

Das kann ich kaum beantworten, denn es ist schon ein paar Jahre her, dass ich "Ministerium für öffentliche Erregung" geschrieben habe. Damals war ich viel jünger und lebte auch noch gar nicht in New York. Nachdem ich aber in Singapur aufgewachsen bin, in unserem post-globalkapitalistischen Zeitalter, kommt es mir so vor, als hätte ich all diese verschiedenen Sichtweisen schon seit jeher in mir. Ich musste mich in Singapur, einem Ort, der so restriktiv ist, immer sehr auf mich selbst besinnen. Ich glaube nicht, dass es meine Arbeit sehr verändert, wo ich mich gerade aufhalte.

Ihr Schreibstil wurde als sprühend, elektrisierend und frech, aber immer auch als tiefgründig und einfühlsam beschrieben. Fühlen Sie sich richtig charakterisiert?

Buchcover Ministerium für öffentliche Erregung von Amanda Lee Koe
Bild: CulturBooks

Das klingt verlockend. Aber ich finde es ziemlich merkwürdig, wenn man als Schriftsteller darüber nachdenkt, was die Leute über einen sagen. Für meine Arbeit spielt das keine Rolle. Wenn man schreibt, muss alles ganz natürlich aus einem selbst herauskommen. Gelingt das nicht, ist es künstlich, und das merkt man dem Text an. Manchmal ist es schwierig für mich, über Ästhetik oder Techniken in Zusammenhang mit Literatur aus Singapur zu sprechen. Ich fühle mich da ein bisschen fehl am Platz. Aber dann denke ich, das ist doch eine interessante Position, von der aus ich arbeiten kann.

Sie sind jetzt 29 Jahre alt. Immer noch sehr jung….

Ich war noch naiver, als ich das Buch schrieb.

Wie alt waren Sie damals?

Ich war 23, fast 24.

In einigen Ihrer Geschichten schreiben Sie über alte Menschen, die auf ihr Leben zurückblicken. Wie haben Sie es geschafft, so tief in die Psyche ihrer Figuren einzudringen?

Ich glaube, ich habe schon immer eine alte Seele, schon seit ich noch sehr jung war. Deshalb war es damals für mich auch sehr schwierig, Freundschaften zu schließen. Vor allem aber denke ich, dass Einfühlungsvermögen für mich als Schriftstellerin das Allerwichtigste ist. Ich habe das Gefühl, dass ich überempathisch veranlagt bin. Das könnte ein alter Mensch sein oder genauso gut ein Baum im Winter, der mich plötzlich viel zu tief anrührt. (lacht)

Das ist manchmal ein bisschen unangenehm, aber ich glaube, dass dieser Aspekt, sich so tief in etwas hineinzuversetzen, seine Ursache darin haben muss, dass man den Anderen verstehen will. Ich bin immer auf der Suche nach dem Geheimnis des Lebens – von wem oder was auch immer. Egal, ob es dabei um einen Gegenstand, eine Situation oder einen Menschen geht: Ich denke, das ist der Weg, wie man in die Tiefe vordringt.

Eine Ihrer Erzählungen hat mit der Kolonialgeschichte Singapurs zu tun. Sie schreiben über Maria Hertogh, ein niederländisches Mädchen, das von malaysischen Muslimen adoptiert wurde. Warum hat ihr Schicksal in Ihren Augen so große Bedeutung?

In der Schule bekommen wir im Zusammenhang der Geschichte von Maria Hertogh nur eine einzige, ganz schlichte Lehre verabreicht: dass die Harmonie der verschiedenen Volksgruppen in Singapur sehr wichtig ist. Lasst es nie mehr zu solchen Rassenunruhen wie damals bei der Sache mit Maria Hertogh kommen! (Anm. d. Red.: Der Aufstand wegen Maria Hertogh brach 1950 aus, nachdem ein Gericht entschieden hatte, dass das Kind, das von einer muslimischen Familie aufgezogen worden war, seinen biologischen Eltern in den Niederlanden übergeben werden sollte.) Die Angelegenheit wurde immer als eine Frage der Rasse behandelt. In der Schule wurde nie hinterfragt, warum die Unruhen überhaupt ausbrachen, oder wie es überhaupt zu der Situation kam. Meine Erzählung ist in dieser Hinsicht auch eine Reaktion gegen die simplifizierende Geschichtspädagogik in Singapur. Man bringt uns bei, sehr komplexe Zusammenhänge in der Vergangenheit lediglich in rudimentären, einfachen Mustern zu betrachten.

Ist es Ihr Anliegen, Tabus zu brechen?

Als mein Buch in Singapur auf den Markt kam, dachten alle, ich wollte nur provozieren. Aber das war gar nicht meine Absicht. Das war einfach nur die Art, wie ich schreiben wollte. Wenn ich dabei mit Konventionen breche, umso besser. Aber ich glaube, wenn man ein Anliegen verfolgt, ist es wichtig, dass man dabei ganz natürlich bleibt.

Der Titel Ihres Buchs heißt auf Deutsch "Ministerium für öffentliche Erregung", auf Englisch "Ministry of Moral Panic". Was für ein Ministerium hatten Sie denn im Sinn?

Amanda Lee Koe
Amanda Lee Koe experimentiert gernBild: Kirsten Tan

(lacht) "Moralische Panik" ist ein soziologisches Konzept, bei dem – um es ganz einfach zu sagen – etwas Schlechtes, das sich ereignet, einem bestimmten Segment der Gesellschaft angelastet wird, so dass das Geschehen mit einer bestimmten Tendenz dargestellt wird. Da ich aus einem Ort wie Singapur komme, wo alles instrumentalisiert und kontrolliert wird, wollte ich mir einfach vorstellen, wie es wäre, wenn so etwas wie diese Ordnung auch einer Verwaltung unterstellt wäre. Ich meine, der Titel ist eher eine Einladung, die Machtsysteme, in denen wir leben und die unsichtbar für uns bleiben, zu durchdenken.

Die politischen Kreise in Singapur verhalten sich gewöhnlich sehr diskret. Aber in diesem Sommer ist eine massive, öffentliche Auseinandersetzung um das Erbe des früheren Premierministers Lee Kuan Yew ausgebrochen. Seine Söhne – Lee Hsien Loong, der ältere, ist der aktuelle Premierminister – und seine Tochter streiten sich darum, was mit Lee Kuan Yews Haus geschehen soll. Ist das nur familiärer Zoff oder von politischer Bedeutung?

Das war in Singapur ein Riesending. Auf der einen Seite hat das was von Familiendrama wie in einer Klatsch-Serie, aber auf der anderen Seite macht es das nur umso schlimmer. Auch wenn Singapur sehr kosmopolitisch ist, ist es in einer traditionellen asiatischen Gesellschaft äußerst selten, dass die schmutzige Wäsche einer Familie so in der Öffentlichkeit gewaschen wird. Aber ich finde, dass genau das auch zeigt, worum es eigentlich geht: Dass unser Premierminister über einen privaten Familienstreit im Parlament spricht, zeigt die Probleme der Macht. Ich finde es ziemlich irritierend, dass er nicht mitbekommt, dass es ein bisschen seltsam ist, im Parlament über so etwas zu sprechen.

"Ministerium für öffentliche Erregung" war Ihr erstes Buch. Haben Sie schon einen Titel für das nächste?

Nein, noch nicht, aber es wird ein Roman, der sehr viele verschiedene Zeitperioden und Perspektiven umfasst. Er findet an allen möglichen Orten der Welt statt, nur nicht in Singapur.

Ihr erstes Buch wurde sehr gut aufgenommen und erhielt verschiedene wichtige Preise. Setzt Sie das nicht beim Schreiben des nächsten sehr unter Druck?

Seltsamerweise nicht. Das hat vielleicht damit zu tun, dass ich meine Erzählungen, als ich sie damals schrieb, nicht besonders ernst genommen habe. Ich habe nicht so wahnsinnig über sie nachgedacht. Das war so eine Art Ufo, das mit jeder Menge Gefühlen und Energie vorbeizog. Ich habe das Ganze nicht als literarisches Konstrukt durchdacht. Aber bei dem Roman, den ich jetzt schreibe, kommt es mir vor allem darauf an, dass ich das treffe, was ich nach meinen eigenen Vorstellungen als ästhetische Erfahrung erzielen möchte. Ich nehme dieses Vorhaben ernster, und das sollte mir eigentlich größeren Druck machen. Aber das Gegenteil ist der Fall, eben gerade, weil ich es ernstnehme.

Das Gespräch führte Sabine Peschel.

Amanda Lee Koe: "Ministerium für öffentliche Erregung", aus dem Englischen von Zoë Beck, Verlag CulturBooks, Hamburg 2016, 222 Seiten