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Politik

Was bringt Olaf Scholz mit in die Ukraine?

16. Juni 2022

Der deutsche Kanzler ist mit Emmanuel Macron und Mario Draghi in Kiew. Die Erwartungen sind hoch - und die Vorgeschichte der Ukraine-Reise ist lang.

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Ukraine | Ankunft Olaf Scholz in Kiew
Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner Ankunft in der Ukraine am DonnerstagBild: Ludovic Marin/AP Photo/picture alliance

Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Deutschland, ist bekannt für seine scharfe Zunge. Als die Nachricht durchsickerte, Bundeskanzler Olaf Scholz werde gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi nach Kiew reisen, postete Melnyk auf Twitter ein Foto von fünf Panzern und schrieb dazu an die Bundesregierung gewandt: "Warum verweigern Sie der ukrainischen Armee diese von Rheinmetall sofort lieferbaren Marder-Schützenpanzer, während die Ukraine im Donbass vor Ihren Augen ausblutet?"

Kurze Zeit später legte Melnyk nach: "Die Ukrainer erwarten, dass Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch in Kiew ein neues Hilfspaket deutscher Rüstungsgüter verkünden wird, das unbedingt sofort lieferbare Leopard-1-Kampfpanzer sowie Marder-Schützenpanzer beinhalten soll", sagte der Botschafter der Deutschen Presseagentur.

Wolodymyr Selenskyj fordert von Scholz eine Entscheidung

Insgesamt brauche die Ukraine 1000 schwere Artilleriegeschütze (Haubitzen), 300 Mehrfachraketenwerfer, 500 Panzer, 2000 gepanzerte Fahrzeuge und 1000 Drohnen, heißt es aus Kiew. "Wir brauchen von Kanzler Scholz die Sicherheit, dass Deutschland die Ukraine unterstützt. Er und seine Regierung müssen sich entscheiden", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einem ZDF-Interview. Seit der russischen Invasion im Februar seien ukrainische Städte von gut 2600 feindlichen Raketen getroffen worden. "Das sind Leben, die hätten gerettet werden können, Tragödien, die hätten verhindert werden können - wenn die Ukraine erhört worden wäre." 

Olaf Scholz zu Panzerlieferungen

Nicht nur wegen eines Fotos nach Kiew

Die Erwartungen an den von deutscher Seite bislang unbestätigten Besuch der drei Regierungschefs in der Ukraine sind groß. Wohl auch deswegen, weil der Kanzler sich so lange Zeit mit seiner Reise gelassen hat. Eine Einladung nach Kiew hat Olaf Scholz schon lange. Zunächst nahm er die allerdings nicht wahr. Grund: Die ukrainische Regierung hatte im April Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wegen angeblich zu großer Nähe zum Kreml ausgeladen.

Steinmeier wollte Kiew besuchen, durfte aber nicht; Scholz durfte, wollte aber nicht: Der Affront schien ihm zu groß. Auch in dieser Situation goss der ukrainische Botschafter Melnyk noch Öl ins Feuer: Er nannte Scholz eine "beleidigte Leberwurst". Schließlich führten Steinmeier und Selenskyj ein klärendes Gespräch. Aber auch danach zögerte Scholz. "Ich werde mich nicht einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen", sagte der Kanzler Mitte Mai.

Noch keine schweren Waffen aus Deutschland angekommen

Zu dem Zeitpunkt hatte CDU-Oppositionsführer Friedrich Merz bereits einen Kiew-Besuch absolviert. Ihm folgte Anfang Mai als erstes Kabinettsmitglied die grüne Außenministerin Annalena Baerbock. Da hatte allerdings der britische Premierminister Boris Johnson schon längst einen aufsehenerregenden Auftritt in Kiew hinter sich. Er blieb mit dem Versprechen in Erinnerung: "Wir steigern unsere militärische und wirtschaftliche Unterstützung und bringen eine weltweite Allianz zusammen, um diese Tragödie zu beenden."

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Profil vor einer blau-gelben Flagge
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat den Bundeskanzler schon vor Wochen eingeladenBild: Natacha Pisarenko/AP/dpa/picture alliance

Der Gegensatz zu Olaf Scholz wurde immer augenfälliger. Briten, Amerikaner und Osteuropäer lieferten früh umfangreiche Militärausrüstung. Scholz warnte stattdessen vor einem dritten Weltkrieg. Schwere Waffen wollte er erst schicken, als der Druck vor allem aus Washington zu groß wurde. Zuletzt versprach der Kanzler neben Panzern und Haubitzen das Luftabwehrsystem Iris-T und vier Mehrfachraketenwerfer. In der Ukraine angekommen sind bislang allerdings nur leichte Waffen und Munition.

Es gilt, ein "Versäumnis" zu korrigieren

"Jetzt müssen den Worten Taten folgen", fordert Henning Hoff von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gegenüber der DW. "Idealerweise hätte Scholz nach der Wiederwahl Emmanuel Macrons gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten Kiew besuchen sollen. Das wäre ein starkes Signal der Solidarität und Unterstützung gewesen. Aber lieber spät als nie." Nun müsse der Kanzler "ein Versäumnis korrigieren", auch mit Blick auf die zugesagten Raketenwerfer und modernen Flugabwehrsysteme.

Wie kritisch das Reden und vor allem (Nicht-)Handeln von Olaf Scholz in Osteuropa gesehen wird, bekam er bereits vergangene Woche bei einem Treffen in Vilnius mit den Staats- und Regierungschefs Litauens, Lettlands und Estlands zu spüren. Die ehemaligen Sowjetrepubliken befürchten, dass sie die nächsten Opfer russischer Aggression werden könnten, sollte Putin in der Ukraine Erfolg haben.

Soll die Ukraine den Krieg gewinnen oder nur nicht verlieren?

Scholz hat immer wieder die Formel "Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen" verwendet. Er vermeidet es zu sagen, die Ukraine müsse diesen Krieg gewinnen. Der lettische Ministerpräsident Krisjanis Karins sagte offenbar in Anspielung darauf: "Unser Ziel ist eindeutig: Russland muss diesen Krieg verlieren und die Ukraine muss ihn gewinnen."

Ein Mann radelt in Kiew an einem zerstörten russischen Panzer vorbei
Zerstörter russischer Panzer, zur Schau gestellt in KiewBild: GLEB GARANICH/REUTERS

Zum Thema Waffenlieferungen hatte die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas schon Ende April bei einem Besuch in Berlin geklagt: "Wir sind 65-mal kleiner als Deutschland. Und wir haben sechs Mal mehr Militärhilfe zur Verfügung gestellt als Deutschland."

Duda: Hitler sollte auch nicht sein Gesicht wahren

Sehr kritisch sehen viele Osteuropäer auf die gemeinsamen Telefonate von Scholz und Frankreichs Präsident Macron mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin - ohne dass andere Partner eingebunden waren. Macron hatte zudem wiederholt gemahnt, man dürfe Russland nicht demütigen und müsse Putin einen gesichtswahrenden Ausweg aus dem Krieg lassen. Der litauische Präsident Gitanas Nauseda bemerkte in Scholz' Beisein trocken, "dass es sehr kompliziert ist, mit einem Diktator zu verhandeln".

Noch weiter ging Polens Präsident Andrzej Duda. Der schrieb am 9. Juni in der "Bild"-Zeitung über die Gespräche mit Putin: "Sie bewirken nur eine Legitimierung eines Menschen, der verantwortlich ist für Verbrechen, die von der russischen Armee in der Ukraine begangen werden." Duda zog Parallelen zur Zeit des Nationalsozialismus: "Hat jemand so mit Adolf Hitler im Zweiten Weltkrieg gesprochen? Hat jemand gesagt, dass Adolf Hitler sein Gesicht wahren können muss? Alle wussten: Man muss ihn besiegen."

Das Schicksal der Ukraine

Noch etwas vermissen die Ukraine und andere Länder im östlichen Europa bei Scholz: Das klare Bekenntnis zu einer ukrainischen EU-Perspektive. Die Bedeutung eines solchen Bekenntnisses ginge über die Aussicht auf eine spätere Mitgliedschaft hinaus, kommentierte die "Neue Zürcher Zeitung" Anfang Juni: "Die Weigerung, Kiew für die Zeit nach dem Krieg Sicherheitsgarantien zu geben, etwa durch eine Beitrittsperspektive für die EU", wirke wie "Appeasement".

Der CDU-Chef Friedrich Merz steht in der ukrainischen Stadt Irpin vor zerstörten Wohnhäusern
Anfang Mai reiste CDU-Chef Friedrich Merz nach KiewBild: Efrem Lukatsky/AP Photo/picture alliance

"Macron und Scholz agieren, als sei das Schicksal der Ukraine für sie zweitrangig. Der Eindruck mag falsch sein, aber die Wahrnehmung ist auch eine Realität. Das gilt besonders im Krieg, wo die Kampfmoral den Ausschlag geben kann. Auf dieser Ebene machen sich Berlin und Paris zu unfreiwilligen Helfern des Kreml", urteilt die NZZ.

Schwerer Abschied vom Pazifismus

Die angelsächsischen Medien dagegen waren in letzter Zeit wieder etwas Scholz-freundlicher gestimmt. "Vor dem Hintergrund seiner Geschichte und seiner pazifistischen politischen Geschichte hilft Deutschland der Ukraine mehr, als viele erwartet haben", schrieb der britische "Economist". Thomas Friedman staunte in der "New York Times" darüber, wie Deutschland "praktisch über Nacht seine fast 80 Jahre alte Konfliktscheu abgelegt hat", seine Verteidigungsausgaben massiv aufgestockt habe und plane, Waffen an die Ukraine zu liefern.

Henning Hoff von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik zieht eine gemischte Bilanz: "In der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist in den vergangenen drei Monaten vielleicht so viel passiert wie in drei Jahrzehnten nicht, getragen von klaren Mehrheiten in der Bevölkerung." Aus Sicht der Verbündeten komme die Bundesrepublik damit jedoch nur in der Gegenwart an. "Von Deutschland wird aber noch mehr erwartet: Nämlich noch viel klarer als bisher Führungsverantwortung zu übernehmen."

Zusammen mit Frankreich und Italien? Mit der Reise von Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Mario Draghi nach Kiew sind hohe Erwartungen verbunden. Ob sie erfüllt werden, muss sich zeigen. 

Olaf Scholz hatte den Vorwurf, er sei zögerlich, vor seiner Abreise noch einmal zurückgewiesen. Für die teils sehr modernen und komplizierten Waffensysteme sei eine Ausbildung für die ukrainischen Streitkräfte erforderlich, antwortete Scholz auf die Vorwürfe des ukrainischen Botschafters und des Präsidenten. "Es geht um richtig schweres Gerät. Das muss man benutzen können, dafür muss man trainiert werden, das findet in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig statt." Alle versprochenen Waffen würden geliefert, betonte er.

Dieser Artikel wurde am 14. Juni 2022 erstmals veröffentlicht und zuletzt am 16. Juni aktualisiert.