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Über die Entstehung von Normen und Normalität

24. Februar 2011

Im Rheinland steht der Karneval vor der Tür. Die "Jecken", also die Verrückten, haben dann das Sagen. Aber was ist eigentlich Normalität, wie kommt sie zustande und wozu ist sie da?

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Verkleidete Karnevalisten feiern Altweiberfastnacht. (Foto: AP)
Bild: AP

Normalität kommt von Norm. Und für die gibt es eine Einrichtung in Deutschland: das Deutsche Institut für Normung, kurz DIN, mit Tausenden von Norm-Experten. Die sorgen dafür, dass das Papier DIN A 4 in den Drucker passt, die Glühlampe in die Fassung und der Stecker in die Steckdose. Normen schaffen Erfolg, sagt das Institut und verkündet auf seiner Homepage:

"Normen fördern den weltweiten Handel und dienen der Rationalisierung, der Qualitätssicherung, dem Schutz der Gesellschaft sowie der Sicherheit und Verständigung. Normen erbringen einen hohen wirtschaftlichen Nutzen, der für Deutschland auf rund 16 Milliarden Euro pro Jahr beziffert wurde."

Sklaven waren im Altertum normal

So weit, so praktisch. Für die Vorstellungen von Normalität in unseren Köpfen ist das Institut allerdings nicht zuständig. Und was ist das überhaupt - "normal"? In der Antike war es normal, Sklaven zu halten und im Mittelalter mit rund 30 Jahren zu sterben. Im 15. Jahrhundert gehörte es zur Normalität, die Erde für eine Scheibe zu halten, von der man ins Unendliche stürzte, wenn man sich dem Schiff zu weit an den Rand des Meeres wagte. So weit zurück muss man aber nicht gehen, betont Doris Lucke, Professorin für Soziologie an der Uni Bonn. Auch heute noch änderten sich die Vorstellungen des Normalen ständig.

Kinderkriegen ist out

Noch Ende der 70er Jahre war es für Paare ohne Trauschein schwer, eine gemeinsame Wohnung zu mieten. Das gehöre heute zur Normalität, auch in ländlichen Gebieten. Im Gegenteil geraten heute die Verheirateten oft unter Rechtfertigungsdruck und müssen sich fragen lassen, warum sie denn heute noch heiraten. Ganz ähnlich sei es in Bezug auf Kinder, die nicht mehr selbstverständlich zum gemeinsamen Lebensplan dazugehören. Als besonders markantes Beispiel für den Normalitätswandel sieht die Soziologin die Bedeutung des Rauchens: "Früher war es ein Zeichen der Emanzipation von Frauen, wenn sie auf der Straße geraucht haben." Heute müssten sich die Raucher etwa auf Bahnsteigen in kleine markierte Felder stellen und seien aus den meisten Kneipen und Restaurants verschwunden.

Mutig oder pervers

"Normal" ist ein Begriff mit vielen Gegensätzen. Wer im positiven Sinne nicht normal ist, gilt den einen als originell, kreativ, mutig, exzentrisch und unangepasst. Das gleiche, unnormale Verhalten - zum Beispiel als Bankangestellter auffällig bunt gekleidet zu sein oder in der Kirche laut zu lachen - betrachten andere als unkorrekt. Die Bezeichnungen für Normverstöße lassen sich weiter steigern mit Worten wie abartig, pervers, behindert, kriminell und krank. Wer so urteilt, verwechselt oft das gewohnt Selbstverständliche mit der Vorstellung vom natürlich Richtigen. Darauf zielte zum Beispiel die Kritik des Filmemachers Rosa von Praunheim. Er hatte 1971 mit einem Aufklärungsfilm für eine große gesellschaftliche Diskussion gesorgt. Der Titel seines Werkes: "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“.

Gebrauchsanweisung für den Alltag

Ohne die Vorstellung von Normalität, betont Doris Lucke, sind wir im Alltag nicht handlungsfähig. Das zeige sich zum Beispiel in den so genannten Krisenexperimenten. So hatte sich eine Studentin für einen Verhaltenstest demonstrativ mit einem Buch in mehrere Bonner Straßencafés gesetzt. Auf die Frage der Kellner, was sie bestellen möchte, antwortete sie, dass sie lesen wolle. Dadurch war der Kellner aus seiner Alltagsroutine katapultiert.

Alles kommt auf den Prüfstand

Ob die Art und Weise, wie wir uns begrüßen, oder die Vorstellung, was wir an einem erfolgreichen Manager bewundern: die Soziologie untersucht diese Normalität und stellt sie in Frage. Es geht aber nicht nur um die Erschütterung liebgewonnener Einschätzungen, betont Doris Lucke. Es gehe immer auch darum, zu zeigen, dass es zu fast jedem Verhalten eine Alternative gebe. Denn in den meisten Fällen ist Normalität eine gefühlte Kategorie, auch wenn viele sie für statistische Wahrheit hielten. Normen fordern Anpassung, schaffen Außenseiter oder bringen die Menschen dazu, vor der Normalität zu fliehen - und das nicht nur in Diktaturen.

Verrückt ist anderswo normal

Für die Flucht vor dem Druck der Normalität nennt die Professorin ein Beispiel ganz aus ihrer Nähe. Als einer ihrer Kollegen am Parkinson-Syndrom erkrankte, versuchte er das in Deutschland zu verbergen. Um nicht aufzufallen, ging er nach New York. Den Umzug begründete er mit der dortigen Atmosphäre: In New York gebe es soviel Verrückte oder Unnormale, dass er dort nicht auffallen würde. Und so konnte er noch einige Jahre seines Lebens unauffällig als "Normaler" in New York leben, was ihm in einer kleinen deutschen Universitätsstadt nicht möglich gewesen wäre.

Schild Raucherbereich Hauptbahnhof Köln (Foto: yetishooter)
Zonen für blauen DunstBild: Fotolia.de
Junge Leute sitzen an Tischen im Freien (Foto: DW)
Nicht nur zum Lesen daBild: picture-alliance/ dpa
Hochzeitspaar küsst sich vor der Kirche. (Foto:Fotolia.com)
Es geht auch ohne...Bild: Fotolia
Französisches Buchmal aus dem 15. Jahrhundert (Foto: Bibliothèque Nationale, Paris)
Die Erde als ScheibeBild: picture-alliance / akg-images
(Foto: Fotolia.com)
Passgenau und DIN-genormt.Bild: Fotolia

Autor: Günther Birkenstock
Redaktion: Klaus Gehrke