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Was steckt hinter den Selbstverbrennungen?

Sarah Berning28. August 2012

Nadine Baumann von der Tibet Initiative Deutschland fordert angesichts der Serie der Selbstverbrennungen von Tibetern deutliche Worte von Bundeskanzlerin Merkel bei ihren Gesprächen in Peking.

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Tibetan exiles shout slogans during a protest against the Chinese government in Delhi, India, Friday, July 13, 2012. (AP Photo/Saurabh Das)
Selbstverbrennung Mönche Tibet ProtestBild: dapd

Anlässlich der deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen haben die Tibet Initiative Deutschland (TID) und der Verein der Tibeter in Deutschland vor dem Kanzleramt in Berlin mit 51 Kreide-Körper-Umrissen auf die Selbstverbrennungen in Tibet aufmerksam gemacht. TID-Geschäftsführerin Nadine Baumann sieht in den Serie der Selbstverbrennungen eine neue Form des politischen Protests in Tibet und Ausdruck der Verzweiflung.

DW: Was haben Sie mit der Demonstration, die vor dem Bundeskanzleramt in Berlin stattfindet, bezweckt?

Nadine Baumann: Wir waren vor dem Bundeskanzleramt anlässlich der bevorstehenden Regierungskonsultationen in Peking. Die Kanzlerin ist in den kommenden Tagen in China und wird dort über wirtschaftliche Beziehungen mit chinesischen Regierungsvertreten sprechen. Wir möchten sie mit dieser Aktion daran erinnern, was in Tibet passiert und auch die Bevölkerung darüber informieren. Wir haben im Vorfeld bereits einen Brief an Frau Merkel geschrieben, in dem wir sie darum bitten, Tibet zum Thema zu machen. Sie hat das in der Vergangenheit wiederholt getan, das wissen wir sehr zu schätzen. Deutschland spricht im Vergleich zu anderen Ländern eine deutliche Sprache. Aber das reicht nicht, um die gegenwärtige Situation in Tibet nachhaltig zu verbessern.

Deutschland spricht oft die Menschenrechtssituation an. Kritiker behaupten, Merkel würde jetzt etwas weicher werden bezüglich der Menschenrechtspolitik. Sieht die Initiative das auch so?

Wir sehen das nicht so. Wir führen regelmäßig Gespräche mit dem Auswärtigen Amt und es wird uns dabei immer wieder versichert, dass Frau Merkel Tibet bei ihren Besuchen in China durchaus zum Thema macht und die Menschenrechtssituation klar anspricht.

Nun ist es so, dass Deutschland und China trotz der Menschenrechtssituation sehr enge Beziehungen pflegen. Werden die von der Initiative kritisch gesehen, oder hofft man, durch die engen wirtschaftlichen Beziehungen Einfluss ausüben zu können?

Das ist sehr treffend formuliert. In der heutigen Zeit, da China zum "Global Player" geworden ist, rufen wir sicher nicht dazu auf: "Jetzt boykottiert chinesische Waren, und die Handelsbeziehungen sollen sofort gestoppt werden." Ganz im Gegenteil: Genau diese Beziehungen können genutzt werden, um Einfluss auf die Menschenrechtssituation zu nehmen. Und auch um gewisse rechtliche Standards zu vereinbaren und deren Einhaltung einzufordern. Ich denke, Deutschland als starker Partner auch in der EU hat auf jeden Fall eine starke Stimme und trägt auch Verantwortung.

Zu den Selbstverbrennungen ist es schwierig, genaue Informationen zu bekommen, weil Journalisten dort nicht zugelassen sind. Wie schätzen Sie die Situation ein? Wie erfahren Sie überhaupt von den Selbstverbrennungen?

Die Situation in Tibet ist alles andere als gut. Wie Sie schon sagen, Tibet ist gesperrt, schon zum zweiten Mal in diesem Jahr. Auch Touristen sind nicht zugelassen, Journalisten schon lange nicht mehr. Und wir fordern auch schon lange, dass es eine unabhängige internationale Untersuchungskommission geben muss. All das wird abgeblockt.

Wir erfahren von den Selbstverbrennungen durch Quellen aus dem Exil, die Kontakte halten zu den Menschen in Tibet. Das ist alles sehr schwierig, aber in Zeiten moderner Kommunikationstechnologie etwas einfacher geworden. Bei den Fällen, die wir hier dokumentieren, versichern wir uns immer zwei, drei Mal, ob das auch stimmt. Das ist nicht immer einfach, aber durchaus machbar.

Die Serie der Selbstverbrennungen von Tibetern reißt seit über einem Jahr nicht ab. Seit März 2011 sind 51 Fälle bekannt geworden. Warum gerade jetzt dieser Anstieg von Selbstverbrennungen?

Zu Beginn im März 2011 haben wir gehofft: Hoffentlich sind das Einzelfälle. Von chinesischer Seite wird ja immer noch argumentiert, es handele sich um isolierte Einzelfälle. Das kann man nicht mehr behaupten, wenn man diesen Zeitraum und die Zahl der Opfer betrachtet. Bis heute wissen wir von 51 Opfern, und davon sind 38 verstorben. Was ist der Grund für den Anstieg? Zu Anfang haben wir auch eher von Verzweiflungstaten gesprochen, aber wir müssen mittlerweile feststellen, dass es sich um eine neue politische Protestform handelt, weil die Menschen einfach keinen anderen Ausweg mehr sehen. Man muss sich klarmachen, dass die meisten Tibeter dem Buddhismus angehören und Selbsttötung im Buddhismus alles andere als anerkannt oder erlaubt ist.

Die chinesische Herrschaft in der Region ist ja nichts Neues, also muss man sich doch die Frage stellen: Warum gerade jetzt?

Was man konstatieren muss, ist, dass die Repressionen immer stärker zunehmen. Jeder ist überwacht, keiner kann sich frei äußern; die Identität wird systematisch zerstört, z.B. dadurch, dass die Sprache zurückgedrängt wird. Das sind alles kleine Nadelstiche. Natürlich ist das schon lange der Fall, aber die Situation hat sich zusehends verschlechtert. Und gerade als Reaktion auf die Selbstverbrennungen haben die chinesischen Behörden ihr hartes Vorgehen noch einmal mehr verstärkt. Tibet ist militärisch abgeriegelt, das berichten die Menschen, die zuletzt vor Ort waren, die Militärkolonnen und allerorts Überwachungskameras in den Straßen gesehen haben und insgesamt von einer Atmosphäre der Angst sprechen. Der Alltag in Tibet ist mittlerweile unerträglich geworden. Ich kann nicht hundertprozentig sagen, warum es ausgerechnet jetzt passiert. Aber es kann nur damit zusammenhängen, dass der Druck noch mal gestiegen ist.

Vor kurzem ist der Dalai Lama von seinen politischen Ämtern zurückgetreten, dabei hatte er immer für eine Politik des mittleren Weges plädiert. Wächst die Verzweifelung unter den Tibetern, weil er nicht mehr in der Politik ist, oder weil sie an seinem mittleren Weg zweifeln?

Nein. Das würde ich absolut verneinen. Ganz im Gegenteil: auch der Dalai Lama hat dazu aufgerufen, diese Selbstverbrennungen nicht durchzuführen. Und dass er die politischen Befugnisse an einen demokratischen gewählten Führer abgibt, an Lobsang Sangay, war ein sehr kluger Schritt des Dalai Lama, der damit die Exildemokratie weiter gestärkt hat. Sangay ist ein westlich geprägter Tibeter, der in den USA lange an der Harvard University gelehrt hat und jetzt in der Welt die Interessen der Tibeter vertritt. Da besteht keinerlei Zusammenhang, und der Dalai Lama ist ja auch weiterhin das religiöse Oberhaupt der Tibeter. Auch Lobsang Sangay bekennt sich zu dem mittleren Weg, den der Dalai Lama eingeschlagen hat.

Man muss allerdings auch sagen, dass es unter den Tibetern verschiedene Strömungen gibt. Je länger die Unterdrückung in Tibet anhält, je eher muss man leider über kurz oder lang damit rechnen, dass sich der Widerstand doch radikalisiert. Aber mit dem Rücktritt des Dalai Lama hat das nichts zu tun.

Könnten sich die Selbstverbrennungen langsam zu einer Protestbewegung entwickeln? Wenn ja, was sind die konkreten Anforderungen an China und an die internationale Gemeinschaft?

Diese Frage müsste man tatsächlich den Tibetern in Tibet stellen, nur die Möglichkeit haben wir leider nicht. Ja, wir sehen die Selbstverbrennungen inzwischen als eine Protestform an. Die Menschen, die sich selbst angezündet haben, haben dabei sehr oft dazu aufgerufen, dass der Dalai Lama zurückkehren möge. Das ist unter den gegenwärtigen Umständen nicht möglich.

Die Taten sind grundsätzlich ein Schrei nach Aufmerksamkeit und an die internationale Gemeinschaft gerichtet. Was jetzt in Tibet passiert, passiert weitestgehend unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit, und die Tibeter sehen offensichtlich keine andere Chance mehr, als ihr Leben zu opfern. Es ist an der Zeit, dass jetzt konkrete politische Schritte eingeleitet werden, um das Leid in Tibet zu beenden und um weitere Opfer zu verhindern.