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Revolutionär und interessant

Das Interview führte Luna Bolivar25. Oktober 2006

Isabel Allende, die Frau die der Welt die Magie der lateinamerikanischen Literatur nahe gebracht hat, sprach mit DW-WORLD über die politische und soziale Situation Südamerikas.

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Portätfoto von Isabel Allende bei einer Pressekonferenz im August 2006
Isabel Allende bei einer Pressekonferenz im August 2006Bild: AP

DW-WORLD: Sie sind derzeit die international bekannteste chilenische Schriftstellerin. Sie sind jedoch in Lima geboren, haben in Bolivien gelebt, 13 Jahre in Venezuela und seit 1987 leben Sie in den USA. Fühlen Sie sich als Chilenin?

Isabel Allende: Ja, ich fühle mich noch immer als Chilenin. Auch wenn ich nicht in Chile geboren bin, meine Eltern sind Chilenen, meine Familie ist chilenisch, ich habe die ersten Jahre meines Lebens in Chile gelebt, wichtige Jahre, Jahre die prägen. Also fühle ich mich natürlich als Chilenin. Ich denke, dass dort meine Wurzeln sind, ich schreibe auf Spanisch, ich reise oft nach Chile und es fällt mir sehr leicht über Chile zu schreiben.

Panorama von Santiago de Chile
Panorama von Santiago de ChileBild: Arne Dettmann

Sie haben in Chile eine Zeit miterlebt, in der es ein enormes soziales Bewusstsein gab, eine starke Strömung, die versuchte die Situation zu ändern. Ist dies verloren gegangen?

Nein. Die politische Situation in Lateinamerika hat sich sicherlich geändert hat. Es gibt nicht mehr diesen Kampfesgeist der 60er und 70er Jahre, diese revolutionäre Leidenschaft und das sozialistische Ideal einer gerechten Gesellschaft. Trotzdem ist Chile ein Land, in dem es seit 16 oder 17 Jahren eine mitte-links regierte Demokratie gibt und ich glaube, dass der Wunsch nach einer Verbesserung der Situation der Armen, nach Gerechtigkeit und Fortschritt weiterhin existiert.

Glauben Sie, dass sich die Chilenen bewusst sind wie schlecht die Lebensbedingungen in den so genannten "Poblaciones", d.h. den armen Stadtvierteln am Rande von Santiago de Chile, sind?

Chile ist ein sehr katholisches Land und die katholische Kirche hat sich schon immer für die Erhaltung eines sozialen Verantwortungsgefühls eingesetzt, so dass alle Leute auf die eine oder andere Weise ihren Teil dazu beitragen und versuchen zu helfen. Neben dem religiösen Aspekt ist das etwas, was seit jeher innerhalb der Familien weitervermittelt wird. Wann immer es eine Notsituation in Chile gibt, egal welcher Art, spenden die Leute Geld, sogar die ärmsten der Armen.

Mittlerweile gibt es einen kleinen Kreis von außerordentlich reichen Leuten in Chile, überdurchschnittlich reichen Leuten, die abgeschottet leben. Und diese Leute interessiert nicht im Geringsten, was außerhalb ihres Zirkels passiert. Sie haben eher Augen für das, was außerhalb des Landes passiert und für ihre eigenen Interessen, sind aber eine viel kleinere Gruppe, als man meinen würde.

Sie haben 13 Jahre lang in Venezuela gelebt, ein sehr wichtiger Abschnitt Ihres Lebens. Das Venezuela der 70er und 80er Jahre, war es besser oder schlechter als das heutige Venezuela?

Die Sonne geht unter hinter einer Ölförderungsanlage in Cabimas in Venezuela
Ölförderung in Cabimas in VenezuelaBild: AP

In den letzten Jahren bin ich nicht mehr in Venezuela gewesen, so dass ich keinen Vergleich anstellen kann. In den 70ern war Venezuela das reichste Land der Welt, alles wurde importiert, alles kam von außerhalb, man hatte den Eindruck, dass durchgängig gefeiert wurde, denn das Öl machte alles möglich und es gab viele Zuwanderer, die kamen "um Amerika zu machen“, wie es damals hieß. Es war ein großes und reiches Land, ein Land voller Lebensfreude.

Was halten Sie von Chávez?

Darüber kann ich nichts sagen, da ich nicht dort lebe. Ich habe viele Freunde in Venezuela, Leute aus dem linken Spektrum, sogar einige, die damals nach Chile kamen um das sozialistische Experiment von Allende mitzuerleben und die am Tage des Militärputsches festgenommen wurden. Und diese Leute, Venezolaner die heute in Caracas leben, unterstützen Chávez nicht, sie lehnen ihn sogar ab. Chávez genießt Unterstützung und Popularität innerhalb der ärmeren Bevölkerung, denen die "bolivarianischen“ Missionen sehr geholfen haben. Die Mittelschicht und die Akademiker der Bevölkerung fühlen sich jedoch nicht von Chávez repräsentiert. Das Land ist geteilt, polarisiert. Es ist eine schwierige Situation.

Wie beurteilen Sie die Lage in Bolivien? Unterscheidet sie sich von anderen Ländern der Region?

Indios mit bunten Wollmützen auf dem Kopf und großen Panflöten in der Hand feiern den Amtsantritt von Evo Morales in La Paz
Indios feiern den Amtsantritt von Evo Morales in La PazBild: AP

Bolivien hat einen sehr hohen Anteil an indigener Bevölkerung, die bisher nie in der Regierung repräsentiert wurde. Zum ersten Mal wurde mit Evo Morales ein Präsident gewählt, der diese breite Masse der indigenen Bevölkerung vertritt. Es ist ein sehr politisiertes Land, von hohem politischem und sozialem Bewusstsein, und unterscheidet sich sehr durch seine ethnische Zusammensetzung und seine Traditionen von Ländern wie Chile, Argentinien oder Venezuela. Es ähnelt vielmehr Peru.

Glauben Sie, dass Evo Morales derjenige sein wird, der für die Gerechtigkeit sorgt, die den indigenen Völker so lange Zeit vorenthalten wurde?

Ich glaube, dass er es versucht. Solche Dinge kann man nicht in nur einigen wenigen Jahren ändern, sie ändern sich nicht, indem ein neuer Präsident gewählt wird. Ich glaube Evo Morales stellt eine große Hoffnung dar und tut sein möglichstes um die Dinge zu ändern. Ich weiß sehr wenig über ihn. Noch zeigen sich keine Resultate seiner ersten Amtshandlung. Man wird abwarten müssen, wie sich die Dinge entwickeln, aber wenigstens stellt er eine Hoffnung dar, die es zuvor nicht gegeben hat.

"Inés del alma mía" (Ines meiner Seele), Ihr neues Buch, ist eine Hommage an jene Frauen, die Geschichte gemacht haben, jedoch immer im Schatten ihrer männlichen Begleiter standen. Nun hat in Chile eine Frau Geschichte gemacht: Michelle Bachelet. Sind Sie stolz darauf, dass eine Frau die Regierungsspitze Ihres Landes bildet?

Chiles Präsidentin Michelle Bachelet steht vor der chilenischen Flagge
Chiles Präsidentin Michelle BacheletBild: AP

Ich bin sehr stolz darauf, dass es eine Frau ist, und noch mehr, weil diese Frau Michelle Bachelet ist, da sie eine außergewöhnliche Person ist. Vielleicht haben Sie ja ihre Biografie gelesen und wissen, was sie alles durchgemacht hat. Ihre Geschichte ist tragisch und grandios zugleich, weil sich diese Frau über tausende von Hindernissen hinweggesetzt hat und einen sauberen, kristallklaren und transparenten Werdegang hinter sich hat. Und jetzt steht sie einer Regierung vor, in der nicht nur sie als Präsidentin eine Neuheit und Überraschung darstellt, sondern auch die Tatsache, dass sie 50 Prozent aller wichtigen öffentlichen Ämter mit Frauen besetzt hat.

Zum ersten Mal entfaltet sich eine weibliche Energie auf der Führungsebene des Landes. Dies kann eine ebenso revolutionäre und interessante Sache sein, wie die, die Allende versuchte durchzuführen, nur in einem anderen Stil, zu einer anderen Zeit und in einem anderen Land. Denn Chile ist heute ein anderes Land. Ich glaube, dass Michelle Bachelet ebenso viel Neugierde erregt, wie Allende damals. Beide sind Menschen, die versuchen etwas zu verändern, was Jahrhunderte lang auf eine bestimmte Art und Weise abgelaufen ist. Sie hat eine sehr feminine Art zu regieren. Sie regiert mit Konsens, hört sich alle Meinungen an und trifft daraufhin eine Entscheidung und beweist dabei Stärke, denn sie ist nicht schwach. Es ist ein Phänomen, das man beobachten sollte, denn ich glaube, wenn es funktioniert, dann ist es sehr interessant.