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Welche Zukunft haben die Palästinenser im Gazastreifen?

15. Januar 2024

Was passiert nach dem Krieg in Gaza? Während einzelne israelische Minister die Auswanderung der Palästinenser fordern, hat die rechte Regierung noch keinen Plan vorgelegt. Viel hänge von den USA ab, meinen Experten.

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Gazastreifen | Zelte vertriebener Palästinenser
Flüchtlinge am 7. Januar in Dair al-Balah im GazastreifenBild: Majdi Fathi/NurPhoto/picture alliance

Die vergangenen drei Monate waren eine Odyssee, eine Suche nach Sicherheit, die es in Gaza nicht gibt. Mehrmals schon musste Muhammed Ali mit seiner Familie eine neue Unterkunft suchen - sein Zuhause in Gaza-Stadt sei von israelischen Angriffen zerstört worden, sagt er. "Wir haben zunächst Schutz im nahegelegenen Al-Quds-Krankenhaus gesucht. Als es hieß, dass wir von dort weg müssten, sind wir nach Nuseirat [im Zentrum des Gazastreifens] gegangen. Momentan sind wir in Rafah", schreibt Ali in einer Textnachricht.

Israelische Soldaten inmitten von Trümmern in Chan Junis
Israelische Soldaten in Chan JunisBild: Israel Defense Forces via REUTERS

Drei Monate nachdem Israel der extremistischen Hamas den Krieg erklärt hat, macht sich der 35-jährige Bauingenieur nicht nur um das tägliche Überleben große Sorgen, sondern auch darum, wie seine Zukunft in Gaza aussehen soll. Nicht zuletzt deshalb, weil einige israelische Politiker, darunter auch Minister der ultra-rechten Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, in Frage stellen, ob Gazas Bevölkerung überhaupt wieder zurückkehren sollte.

"Wir hoffen, dass es nicht zu Zwangsvertreibungen kommt, dass der Krieg zu Ende geht, und dass die Menschen wieder nach Hause können. Genug damit, was passiert ist - es muss ein Ende geben", sagt Ali der DW. 

Weder das israelische Kriegskabinett noch das erweiterte Sicherheitskabinett haben sich bislang offiziell darauf verständigt, wie es mit Gaza und seinen rund 2,2 Millionen Einwohnern nach dem Krieg weitergehen soll. Der politische Diskurs dreht sich um die "Eliminierung" der militanten Hamas, die für die Terrorattacken vom 7. Oktober verantwortlich ist, bei denen über 1200 Menschen starben. Und um die Befreiung der mehr als 130 Geiseln, die noch immer im Gazastreifen festgehalten werden.

"Freiwillige Auswanderung" der Palästinenser aus Gaza

Rechtsextreme Politiker wie Finanzminister Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir, Minister für Nationale Sicherheit, machen keinen Hehl daraus, dass sie sich die Zukunft Gazas ohne die meisten palästinensischen Einwohner vorstellen - und bebaut mit neuen israelischen Siedlungen.

Premier Benjamin Netanjahu und Finanzminister Bezalei Smotrich (Archivbild)
Premier Benjamin Netanjahu (l.) und Finanzminister Bezalei Smotrich (Archivbild)Bild: Ronen Zvulun/Pool Reuters/AP/dpa

"Was im Gazastreifen getan werden muss, ist die Förderung von Auswanderung", sagte Smotrich vor kurzem in einem Interview mit dem israelischen Armeeradio. "Wenn es 100.000 oder 200.000 Araber in Gaza gibt und nicht zwei Millionen, wird die ganze Diskussion für den Tag danach ganz anders aussehen". Auch Ben Gvir forderte, die "freiwillige Auswanderung" von Palästinensern aus dem Gazastreifen zu fördern. Andere Parlamentarier und Kabinettsmitglieder äußerten sich ähnlich.

In israelischen Medien wurde von Verhandlungen mit Drittstaaten berichtet, die bereit wären, Palästinenser aufzunehmen, unter anderem der Demokratischen Republik Kongo, Ruanda oder Tschad. Alle drei Länder haben diese Berichte als falsch zurückgewiesen.

Netanjahu: "Keine Absichten, Gaza langfristig zu besetzen"

Der israelische Verteidigungsminister Joav Gallant erteilte zumindest den Siedlungsplänen seiner rechten Koalitionspartner eine Absage. Es werde "keine zivile [israelische] Präsenz in Gaza geben", heißt es in einem Plan zur Zukunft Gazas, den er Anfang Januar vorstellte. Gaza solle demnach von Palästinensern regiert werden, so der Plan, während Israel die Sicherheitskontrolle behält. Auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu stellte klar, dass Israel "keine Absichten hat, Gaza langfristig zu besetzen oder seine Zivilbevölkerung zu vertreiben." Israel hatte seine Siedlungen im Gazastreifen 2005 abgezogen. Es hat aber die Kontrolle über die Landes- und Seegrenzen sowie den Luftraum behalten, nachdem die militante Hamas 2007 gewaltsam die Macht in Gaza an sich gerissen hatte.

Gaza-Streifen: Humanitäre Lage verschlechtert sich weiter

Die kleinen ultra-rechten Koalitionspartner seien wichtig, um Netanjahus Regierungskoalition zu erhalten, ihr Einfluss auf strategische Entscheidungen sei manchmal jedoch fraglich. "Israel ist mehr als zuvor abhängig von den USA. Das betrifft sowohl die diplomatische Unterstützung im UN-Sicherheitsrat als auch Israels nationale Sicherheit", sagt Udi Sommer, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tel Aviv und Research Fellow am John Jay College der City-Universität von New York. "Wenn man eine Vorschau auf ein realistisches Nachkriegs-Szenario in Gaza haben will, würde ich deshalb auf das hören, was der amerikanische Außenminister sagt - und nicht auf die rücksichtslosen Äußerungen von extremistischen Elementen in der Netanjahu-Regierung." 

Kritik an der Hetze durch Politiker und Journalisten

Andere wiederum stellen die öffentliche Debatte in Israel in Frage, in der wenig Platz ist für das Schicksal der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza. In einem offenen Brief kritisierten einige frühere Abgeordnete und Akademiker die zunehmende Hetze von Politikern, Journalisten und Parlamentariern gegen Palästinenser in Gaza.

US-Außenminister Antony Blinken und Israels Verteidigungsminister Joav Gallant
US-Außenminister Antony Blinken (r.) und Israels Verteidigungsminister Joav GallantBild: Evelyn Hockstein/AP Photo/picture alliance

Die umstrittenen Äußerungen israelischer Politiker und Minister sind auch Teil der von Südafrika eingereichten Klage beim Internationalen Strafgerichtshof. Südafrika beschuldigt Israel des Völkermords im Gaza-Krieg. Die ersten Anhörungen fanden vergangene Woche statt.

Die USA und andere Länder, darunter auch Deutschland, haben die Aussagen der Rechtsextremen als "unverantwortlich und hetzerisch" kritisiert. Während seines Besuchs in der Region kündigte US-Außenminister Antony Blinken vor wenigen Tagen eine Mission der Vereinten Nationen in den Norden Gazas an, die feststellen soll, unter welchen Bedingungen Palästinenser wieder zurückkehren könnten.

Rund 1,9 Millionen Menschen in Gaza auf der Flucht

Eine potenzielle Zwangsumsiedlung von Palästinensern aus Gaza ist auch für die arabischen Staaten inakzeptabel. Besonders  deutlich hat sich Ägyptens Präsident Abdel Fatah al-Sisi dazu geäußert,  dass das Land keine Pläne habe, Palästinenser im benachbarten ägyptischen Sinai anzusiedeln.

Nach Angaben des Hilfswerks der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) gelten schätzungsweise 1,9 Millionen Menschen - also rund 85 Prozent der Einwohner - als vertrieben. Hunderttausende suchen derzeit in Rafah Schutz, der südlichsten Stadt des Gazastreifens an der Grenze zu Ägypten.

Allein die immense Zerstörung in Gaza lässt an einer schnellen Rückkehr der Palästinenser zweifeln, sagt der palästinensische Menschenrechtsaktivist Mustafa Ibrahim am Telefon aus Rafah. "Smotrichs jüngste Äußerung, die von Europa und Amerika verurteilt wurde, klingt wie ein Konzept zur Vertreibung", sagt Ibrahim der DW. Bereits jetzt seien "1,5 Millionen Palästinenser in Rafah zusammengepfercht."

Zerstörte Gebäude in Rafah
Zerstörte Gebäude in RafahBild: Saleh Salem/REUTERS

Das Thema Flucht und Vertreibung ist für die Palästinenser nicht neu, sagt Ibrahim. Viele haben dabei das Trauma von 1948 im Hinterkopf, die sogenannte "Nakba" (Arabisch für "Katastrophe"). Damals mussten während des Arabisch-Israelischen Krieges Hunderttausende aus ihren Heimatorten fliehen oder wurden vertrieben. Bis heute konnten sie nicht zurückkehren. In Gaza galten laut UNRWA bereits vor der jüngsten Eskalation rund 70 Prozent der Einwohner als Flüchtlinge oder deren Nachkommen. 

Zu ihnen zählt auch Amer Abdel Muti. Er kommt ursprünglich aus Dschabalia im Nord-Osten von Gaza-Stadt, musste nun jedoch auch mehrmals fliehen - erst nach Chan Yunis, und zuletzt nach Rafah. "Wenn westliche Staaten während des Krieges ihre Türen für uns öffnen und uns eine kurzzeitige Ausreise erlauben würden, die uns erlaubt, nach einer Waffenruhe zurückzukehren, dann würde ich gehen, denn ich habe Angst um mein Leben", schreibt der 30-Jährige in einer Textnachricht. "Aber wenn ich für immer wegmüsste, dann würde ich nicht gehen. Dann würde ich in meiner Heimat bleiben."

Dieser Text entstand mit Zulieferungen von Hazem Balousha aus Amman.

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin