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Politik

Wenn demonstrieren lebensgefährlich wird

Tobias Käufer
6. Juni 2017

Die Zahl der Toten und Verletzten bei den Anti-Regierungs-Protesten in Venezuela steigt weiter. Bei Familie Guinand wurden gleich drei Familienmitglieder verletzt. Von Tobias Käufer, Caracas.

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Gewaltsame Zusammenstöße in Caracas (Foto: Picture alliance/Zumapress/A. Manzol)
Bild: Picture alliance/Zumapress/A. Manzol

Die Bilder aus Venezuela schockieren: Motorisierte Banden, die wahllos auf oppositionelle Demonstranten schießen, Tränengasgranaten, die gegen friedliche Regierungsgegner eingesetzt werden und zuletzt ein Fall von brutaler Lynchjustiz, als ein Regierungsanhänger offenbar von Oppositionellen mit Benzin übergossen und angezündet wurde. Die Eskalation der Gewalt in Venezuela ist erschreckend. Mindestens 65 Menschen aus beiden Lagern kamen seit Ausbruch der Proteste Anfang April ums Leben. Verletzt wurden nach Angaben der Opposition mehrere hundert Menschen. Drei davon sind Mitglieder der Familie Guinand, die eigentlich nur friedlich demonstrieren wollten. 

Hinterkopf mit Narbe von Andres Guinand (Foto: DW/J. T. Diaz )
Die Tränengasgranate hat bei Andres Guinand zu einer starken Verletzung geführt. Die Narbe ist noch heute gut sichtbar.Bild: DW/J. T. Diaz

"An jenem Mittwoch im April bin ich gemeinsam mit meiner Freundin und einigen Verwandten auf der Autopista Francisco Fajardo unterwegs gewesen", erinnert sich Andres Guinand (28) an den Tag, an dem er dem Tod nur knapp entkommen ist und seitdem auf seiner Schädeldecke eine große Narbe zu sehen ist. Als der Protestmarsch von den Sicherheitskräften an einem Einkaufszentrum zum Stoppen gebracht worden sei, habe er rund 300 Meter Abstand gehalten. Dann aber hätten die Sicherheitskräfte ihre Taktik geändert und seien auf die Demonstranten zugelaufen. "Das hat eine Panik unter den Demonstranten ausgelöst. Meine Freundin und ich haben die Entscheidung getroffen, am Rand der Autobahn Schutz zu suchen." Als die dichten Rauchschwaden des Tränengases unerträglich wurden, versuchte sich Andres einer Gruppe anzuschließen, die über einen nahegelegenen Fluss fliehen wollte.

Todesangst

Dann traf Andres Guinand eine der Tränengasgranaten am Kopf, seine Beine sackten weg. "Ich war für ein paar Momente völlig taub." Seine Freundin und andere Passanten, versuchten, den Verletzten auf die Beine zu stellen. Doch die versagten ihren Dienst. "Ich habe meine Beine nicht mehr gespürt." Augenblicke später konnten medizinische Hilfskräfte der Demonstranten Andres versorgen. "Doch trotz der verzweifelten Schreie der Helfer schossen die Sicherheitskräfte immer weiter in unsere Richtung." Für den schwer verletzten Andres waren es schreckliche Minuten der Angst.

Eine Untersuchung ergab später, Guinand habe eine Schädelfraktur erlitten, ein Stück der Schädeldecke sei ihm entnommen worden. Trotzdem will der Architekt weiter demonstrieren: "Es ist gefährlich an einer Demonstration teilzunehmen, aber das ist bei weitem nicht so gefährlich wie das Alltagsleben in unserem Land mit all der Kriminalität und Gewalt. Deswegen werde ich wieder hingehen."

Nicht einschüchtern lassen

Eduardo Guinand Baldo (80), Andres Guinand (28) und Leopoldo Guinand Baldo (74) an einem Tisch (Foto: DW/J. T. Diaz )
Eduardo Guinand Baldo (80), Andres Guinand (28) und Leopoldo Guinand Baldo (74).Bild: DW/J. T. Diaz

Bei der gleichen Demonstration, allerdings einige hundert Meter entfernt, wurde Andres Großonkel Eduardo Guinand (80) verletzt. Wie Andres ist Eduardo Architekt und "seit Anfang der Proteste auf der Straße" - wie er trotz seines fortgeschrittenen Alters stolz betont. "Der Versuch, das Parlament zu entmachten, hat mich bewegt, zu demonstrieren. Seitdem habe ich fast keine Demo verpasst", sagt Eduardo. Anfang April hatte die Justiz erfolglos versucht, mit einer umstrittenen Entscheidung die Kompetenzen der Nationalversammlung zu beschneiden. Seitdem laufen die Massenproteste. Auch Eduardo traf an jenem 19. April eine Tränengasgranate unter dem Auge. Venezolanische Medien berichten, dass diese Tränengasgranaten oft gezielt in die Menschenmassen abgefeuert würden um Angst und Schrecken zu verbreiten. Dabei kam es auch zu Todesfällen. "Ich hatte große Angst das Augenlicht zu verlieren, aber Gott sei Dank ist es gut gegangen."

Leopoldo Guinand hält sich bei einer Demonstration ein Tuch vor den Mund. Andere Demonstranten mit Gasmasken stützen ihn. (Foto: DW/Bernado Guinand)
Andere Demonstranten helfen dem 74-jährigen Leopoldo Guinand nachdem er Tränengas abbekommen hatBild: DW/Bernado Guinand

Von der brutalen Gangart der Nationalgarde will sich Eduardo nicht einschüchtern lassen. Im Gegenteil: All das mache ihn noch entschlossener. "Es geht nicht um mich, es geht um die nächste Generation. Ich will, dass sich endlich etwas ändert." Auch Eduardo jüngerer Bruder Leopoldo (74) wurde bei den Demonstrationen verletzt. Er kam mit Verletzungen der Atemwege durch den massiven Tränengaseinsatz vergleichsweise glimpflich davon.

Die Guinands legen Wert darauf, dass sie keiner politischen Partei angehören: "Aber wir haben natürlich unsere Meinung." Die zum Teil schweren Verletzungen haben die Familie zusammenwachsen lassen. "Wir werden nun viel über Politik diskutieren und wir haben entschlossen weiter auf die Straße zu gehen, wenn wir jetzt nachlassen, dann haben wir verloren. Und ich will den Optimismus nicht verlieren."