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Politik

Wenn eine Minderheit regiert

27. November 2017

Eine Minderheitsregierung gilt in Deutschland als etwas anrüchig, weil instabil. Doch der Blick in andere europäische Länder zeigt, dass sie dort nicht nur üblich, sondern oft auch erstaunlich stabil ist.

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Symbolfoto Minderheitsregierung
Bild: picture-alliance/dpa/F. Hörhager

Es hat sie in Skandinavien, Spanien oder den Niederlanden gegeben, mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen. Manche hielten lange, andere brachen bald zusammen: Minderheitsregierungen in Europa sind keineswegs die große Ausnahme. In manchen Ländern sind sie sogar der Normalfall. Hier eine Aufstellung:

Dänemark

Wahrscheinlich das Land mit den meisten Minderheitsregierungen in Europa: Von über 30 Nachkriegsregierungen hatten nur vier eine eigene Mehrheit. Alle anderen waren auf die Unterstützung von Teilen der Opposition angewiesen. Ein Grund dafür ist der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien: Zwar gibt es etwa seit der Jahrtausendwende theoretische Mehrheiten rechts der Mitte. Die bürgerlichen Politiker scheuen aber eine offene Zusammenarbeit mit den Rechtsnationalen und lassen sich als Ausweg von ihnen tolerieren. So ist es auch im Moment: Der Konservative Lars Lökke Rasmussen führt eine aus drei Parteien bestehende Koalition an, die außerdem noch auf die Stimmen der rechtspopulistischen Volkspartei angewiesen ist. Deren Einfluss merkt man etwa an der Flüchtlingspolitik. Es gibt im westlichen Europa kaum ein Land, das eine so harte Politik gegenüber Migranten betreibt wie Dänemark - wegen des Einflusses der Volkspartei.

Schweden

Auch Schweden hat zahlreiche Minderheitsregierungen hinter sich, ohne seinen berechtigten Ruf als Wohlfahrtsparadies und Stabilitätsanker zu verlieren. Im Moment verfehlt der Sozialdemokrat Stefan Löfven trotz Koalition mit den Grünen ebenfalls deutlich eine Mehrheit. Von 349 Mandaten im Reichstag hat die Regierung nur 138. Das führte zum Beispiel dazu, dass gleich der erste Haushaltsentwurf von Rot-Grün scheiterte. Statt zurückzutreten und Neuwahlen auszuschreiben, entschloss sich Löfven, als großes Zugeständnis, ein Jahr lang den haushaltspolitischen Vorstellungen der Opposition zu folgen. In Schweden fördert bereits die Sitzordnung die Kompromissbereitschaft: Die Abgeordneten im Reichstag sitzen nicht nach Fraktionen, sondern nach der jeweiligen Heimatregion zusammen - und damit Seite an Seite mit Kollegen aus anderen Parteien. Der Skandinavist Bernd Henningsen erklärte kürzlich im ZDF den Unterschied in der politischen Kultur zu Deutschland: "Während ein Kompromiss in Deutschland oft als faul gilt und einen schlechten Ruf hat, ist der Begriff in Schweden positiv besetzt. Da ist er schlichtweg die Lösung einer Sachfrage zum Nutzen der Gesellschaft und der Politik."

Schweden Reichstag
Im schwedischen Reichstag sitzt man nach Regionen, nicht nach Fraktionen zusammenBild: Getty Images/AFP/B. Ericson

Norwegen

Während die dänischen Rechtspopulisten die Regierung dulden und die schwedischen vor allem gegen die Regierung arbeiten, sind die norwegischen direkt an der Regierung beteiligt, allerdings auch hier an einer Minderheitsregierung. Die konservative Hoyre-Partei von Ministerpräsidentin Erna Solberg und die rechtspopulistische Fortschrittspartei lassen sich von Christdemokraten und Liberalen dulden. Auch diese Konstellation ist recht stabil. Das mag auch daran liegen, dass die Partner nicht formlos zusammenarbeiten, sondern dafür einen eigenen Vertrag unterschrieben haben. In eine förmliche Koalition wollten die Unterstützer aber nicht eintreten. Ein Faktor, der die politische Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition in allen nordischen Ländern erleichtert, ist die Tatsache, dass alle diese Länder Einkammernparlamente haben. Im Unterschied zu Deutschland, wo für zahlreiche Vorhaben eine Einigung sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat gefunden werden muss, reicht in Skandinavien die Absprache in nur einer Kammer.

Niederlande

Hier hatten Minderheitsregierungen bisher keine besondere Tradition und kamen eher durch Koalitionsbruch zustande. Zwar ist das niederländische Parteiensystem stark aufgefächert, was die Regierungsbildung erschwert. Aber normalerweise tun sich am Ende doch so viele Parteien zu einer Koalition zusammen, dass sie über eine Mehrheit der Abgeordnetenstimmen verfügen, so wie jetzt wieder nach monatelangen Koalitionsverhandlungen. Das bekannteste Beispiel einer Minderheitsregierung war eher abschreckend, und zwar für alle Beteiligten: 2010 ließ sich die christlich-liberale Zweierkoalition von Ministerpräsident Mark Rutte vom Rechtspopulisten Geert Wilders tolerieren, dessen Partei für die Freiheit (PVV) drittstärkste Kraft geworden war. Am Ende waren es gar nicht, wie viele Regierungspolitiker befürchtet hatten, Wilders‘ extreme Forderungen, die die Zusammenarbeit beendeten. Wilders selbst stieg aus, weil er Ruttes Sparpaket während der Eurokrise nicht mittragen wollte. Bei der Neuwahl verlor dann Wilders deutlich, und Rutte fühlt sich als gebranntes Kind und will seitdem von einer Duldung nichts mehr wissen.

Geert Wilders und Mark Rutte Niederlande
Heute will Ministerpräsident Rutte (r.) von einer Duldung durch den Rechtspopulisten Wilders nichts mehr wissenBild: picture alliance/dpa/Y.Herman

Spanien

Auch der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy von der konservativen Volkspartei hat keine Mehrheit im Madrider Parlament. Die spanische Parteienlandschaft ist ebenfalls reichhaltig, allerdings weniger in ideologischer als in regionaler Hinsicht. Regionalparteien haben 49 der 350 Mandate. Und hier fing das Problem für Rajoy in der Katalonien-Krise an. Denn seine Regierung wurde sowohl von den Liberalen als auch der konservativen Baskischen Nationalpartei geduldet. Beide hatten dafür gesorgt, dass Rajoys Haushaltsentwurf verabschiedet wurde. Rajoys scharfes Vorgehen gegen die katalanischen Separatisten hat aber die Baskische Nationalpartei derart auf die Palme gebracht, dass sie ihre Unterstützung aufgekündigt hat. Ihre Sympathien für die Separatisten in Barcelona waren zu groß. Andererseits haben ausgerechnet die Sozialisten Rajoy in der Katalonien-Frage unterstützt, ein weiteres Zeichen, dass in Spanien Regionalismen oft wichtiger sind als die traditionellen Rechts-Links-Gegensätze.

Portugal

Int Portugal wird seit 2015 eine sozialistische Minderheitsregierung unter Ministerpräsident António Costa von zwei weit links stehenden Parteien tolieriert. Dabei sind die Sozialisten nicht einmal stärkste Fraktion im Parlament geworden. Costa hatte eine konservative Regierung abgelöst, und viele Leute in Europa hielten angesichts des neuen Linksbündnisses die Luft an. Schließlich war Portugal eines der Länder, die in der Staatsschuldenkrise auf Hilfe von außen angewiesen waren. Die große Frage lautete: Würde Lissabon die Sparauflagen einhalten? Doch die portugiesische Minderheitsregierung mit ihrer kommunistischen Unterstützung hat sich bisher als erstaunlich stabil erwiesen. Und die wirtschaftliche Erholung im Land gibt ihr Recht. Die Zweifel an der Minderheitsregierung sind fürs erste verflogen. 

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik