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Die Mitleidsindustrie

16. Dezember 2010

Gerade an Weihnachten wird viel gespendet. Doch kommt das Geld auch dort an, wo es gebraucht wird? In ihrem Buch "die Mitleidsindustrie" blickt Linda Polman hinter die Kulissen internationaler Hilfsorganisationen.

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Buchcover "die Mitleidsindustrie"(Foto:Campus Verlag)
Cover des Buches "Die Mitleidsindustrie" von Linda PolmanBild: Campus Verlag

"Nehmen wir einmal an, es ist 1943. Sie sind Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation. Das Telefon klingelt. Es sind die Nazis. Sie dürfen Hilfsgüter in ein Konzentrationslager bringen, aber die Lagerverwaltung darf bestimmen, wie viel davon ans eigene Personal und wie viel an die Gefangenen geht. Was tun Sie?"

Die niederländische Journalistin Linda Polman stellt unangenehme Fragen. Sie zwingt ihre Leser gleich zu Beginn ihres Buches "Die Mitleidindustrie", sich mit dem uralten Dilemma humanitärer Hilfe auseinanderzusetzen. "Hilfe muss neutral und unabhängig sein", erklärte Henry Dunant, als er 1863 das Internationale Komitee für Verwundetenpflege gründete, das später in Internationales Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) umbenannt wurde. "Im Krieg kann Hilfe nie neutral und unabhängig sein", sagte dagegen die im Krimkrieg berühmt gewordene Krankenschwester Florence Nightingale. Was also tun, wenn die Nazis anrufen? Das Rote Kreuz kollaborierte. Zwar wusste es 1942 vom Holocaust, schwieg aber, um kein Verbot seiner Arbeit im Nazimachtbereich zu riskieren. Ein tragischer Fehler, räumte die Genfer Organisation später selbst ein. "Gelernt habe man daraus nicht", sagt Linda Polman im Gespräch mit DW-WORDL.DE, "Im Gegenteil!"

"Unfreiwillige Kollaborateure"

Linda Polman (Foto:Patricia Hofmeester)
Linda Polman blickt hinter die Kulissen internationaler HilfsorganisationenBild: Patricia Hofmeester

In ihrem Buch beschreibt Polman, wie Hilfsorganisationen in den achtziger Jahren dem Regime in Äthiopien mit Geld und Gütern bei einer erzwungenen Migration behilflich waren, die mehrere Zehntausend Menschen das Leben kostete. Wie humanitäre Hilfsorganisationen in den neunziger Jahren in Goma den ruandischen "Génocidaires" halfen, sich wieder zu erholen, so dass sie ihre Vernichtungskampagne gegen die Tutsi fortsetzen konnten. Und wie dem grausamen Regime im Sudan, das vom Internationalen Strafgerichtshof des Genozids beschuldigt wird, Millionen Steuern gezahlt wurden.

In den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt geben Diktatoren und Warlords die Regeln vor: Wer kommt, um den Opfern zu helfen, muss die Täter bezahlen. Bis zu 80 Prozent der Hilfsgelder fließen teilweise an die lokalen Machteliten, sagt die Autorin. Hilfe ist mittlerweile ein fester Bestandteil der Kriegsökonomie geworden.

Die Hungerwaffe

"Nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1949, wurde in der Genfern Konvention Aushungern als Kriegswaffe verboten", erklärt Polman in ihrem Buch, "doch Kriegsführende benutzen die Hungerwaffe dennoch, das ist schnell, effektiv und billig und auf Nichtbefolgen der Genfer Konvention stehen bekanntlich keine Sanktionen." Gehe der Plan auf, wird es nach dem Hunger noch besser: Es kommt humanitäre Hilfe, von der sich die Täter dann wieder bedienen. Linda Polman weiß, wovon sie schreibt. Als Korrespondentin hat sie seit mehr als 20 Jahren internationale Hilfseinsätze begleitet: "Hilfsorganisationen geraten mehr und mehr in das Dilemma, missbraucht zu werden", erklärt Polman. Doch die Entscheidung, Nein zu sagen und den Hilfseinsatz abzubrechen, die könne nur gemeinsam getroffen werden. "Leider stehen die Hilfsorganisationen jedoch zueinander in Konkurrenz, denn es geht dabei auch um sehr viel Geld. Jeder möchte schneller, besser und attraktiver für die Geberländer sein."

Familie in Katutura(Foto:DW)
Ob die Spendengelder wirklich bei den Menschen ankommen, die Hilfe dringend benötigen, bleibt nur zu hoffenBild: DW / Koch

Eine "Mitleidsindustrie" sei entstanden, in der weltweit rund 37.000 Organisationen miteinander konkurrieren. Dabei geht es um geschätzt 120 Milliarden Dollar, die allein die Geberländer der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) jährlich für Entwicklungshilfe bereitstellen. Dazu kommen Nothilfen, wie nach dem Tsunami und Millionen aus privaten Spenden. "Kontrolle? Fehlanzeige", schreibt Polman, jeder könne seinen eigenen Spenden-Laden aufmachen und mehr als ein Touristenvisum sei dafür auch meist nicht nötig.

"Religiöse Do-it-yourself-Hilfe, vor allem amerikanische, ist der am schnellsten wachsende Zweig der Hilfsindustrie", sagt Polman in ihrem Buch und beschreibt abstruse Situationen: Jesus-Gruppen, die in Afghanistan und im Irak Bibeln und Mahlzeiten verteilen, bis die muslimischen Regierungen dem ein Ende machen. Born-Again-Kirchen, Pfingstgemeinden und Baptisten, die sich "in Westafrika fast über den Haufen" rannten. Oder, dass im sierra-leonischen Freetown für das Anmieten des Fußballstadions eine Warteliste erstellt werden musste, um dort Salvation-Shows zu veranstalten.

Fatales Ringen um Aufmerksamkeit

Vor allem die Medien spielen im internationalen Hilfs-Business eine zentrale Rolle. Bilder von aufgeblähten Kinderbäuchen und elend Leidenden sind für die Akquise von Hilfsgeldern von großer Bedeutung. Journalisten bewegen sich in Kriegsgebieten heute meist mit der Hilfe von NGOs. "Wir brauchen deswegen umso mehr Journalisten, die sich auf Hilfsorganisationen und -einsätze spezialisieren", fordert Polman. "Ein Konflikt endet nicht mit dem Aufbau eines Hilfscamps, er bekommt dadurch eine neue Dimension. Journalisten müssen die verschiedenen Interessen, die hinter einem Einsatz stehen, abwägen können und Unabhängigkeit von dieser 'Mitleidsindustrie' bewahren."

Doch wie bleiben Journalisten, deren Reisen in Krisenregionen häufig von Hilfsorganisationen finanziert werden, objektiv? Wie erhalten Hilfsorganisationen, die zunehmend von den Interessen der Geberländern und Spender geleitet werden, ihre Unabhängigkeit von politischem und militärischem Kalkül? Linda Polman hat keine Pauschalantwort auf dieses Dilemma. "Ich wurde zu vielen Diskussionsrunden eingeladen und immer wurde gesagt: Das Problem müssen wir angehen. Aber in der Praxis passiert nichts." Sie hofft aber, dass endlich ein Hinterfragen in Gang gekommen ist, welches Hilfsorganisationen, Journalisten, Spender und Politik dazu zwingt, sich ernsthaft und gemeinsam mit dem Problem auseinanderzusetzen.

Autorin: Anne Herrberg

Redaktion: Michaela Paul

Linda Polman: "Die Mitleidsindustrie - Hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen". Campus-Verlag, 264 Seiten, 19,90 Euro