1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Wenn Kinder abgeschoben werden

Christian Ignatzi24. Oktober 2013

Manchmal sind die Behörden gnadenlos: Aus EU-Staaten werden auch minderjährige Flüchtlinge abgeschoben. In Frankreich hat der Fall einer 15-Jährigen für Empörung gesorgt. Ist Ähnliches auch in Deutschland möglich?

https://p.dw.com/p/1A45o
Ein Kind geht durch einen Flur der Erstaufnahme-Unterkunft für Asylsuchende in Berlin-Spandau - Foto: Bernd von Jutrczenka (dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Sadaf Walizada fühlt sich in Deutschland wohl. Die Zwölfjährige stammt aus Afghanistan und lebt heute in Berlin, wo sie die 5. Klasse besucht. Doch vor wenigen Monaten sollte Sadaf zusammen mit ihrer Familie nach Afghanistan abgeschoben werden. Sadaf beschloss, etwas zu unternehmen. Sie wandte sich an Bundespräsident Joachim Gauck und schilderte die Situation ihrer Familie in einem Brief. "Meine Freunde haben mich unterstützt, Unterschriften gesammelt und selbst noch einen Brief an den Präsidenten geschickt", erinnert sich Sadaf. "Die Unterstützung hat mich sehr gefreut."

Auch in Deutschlands Nachbarland Frankreich sorgte kürzlich die Abschiebung einer Minderjährigen für Aufregung. Dort löste der Fall der 15-jährigen Romni Leonarda Dibrani landesweite Proteste aus. Die französischen Behörden hatten sie Anfang Oktober bei einem Schulausflug aus dem Bus geholt und mitgenommen - gegen den Widerstand der Lehrerin. Noch am selben Tag wurde Leonarda ins Kosovo gebracht. Dort lebt die in Italien geborene Jugendliche jetzt, die perfekt Französisch spricht. Nach langem Hin und Her bot ihr Präsident François Hollande am 19. Oktober an, wieder nach Frankreich zu kommen: allein. Doch ohne ihre Familie wollte Leonarda nicht zurückkehren.

Der Rückhalt bei der Bevölkerung in Deutschland ist groß

Leonarda Dibrani - Foto: Armed Nimani (AFP)
Leonarda Dibrani: Bei Schulausflug aus dem Bus geholtBild: Armend Nimani/AFP/Getty Images

In Frankreich sind Abschiebungen an der Tagesordnung. Etwa 18.000 waren es allein in diesem Jahr. Deutschland kam im gesamten Jahr 2012 auf fast 7000. Für Günter Burkhardt vom Verein "Pro Asyl" erklärt das, warum es in Deutschland in ähnlichen Fällen wie dem von Leonarda Dibrani nicht zu Massenprotesten und Solidarisierungsaktionen kommt. Doch auch, wenn es keine Massenbewegungen gibt in der Bundesrepublik: Wenn es darum geht, Menschen zu schützen, die abgeschoben werden sollen, ist der Rückhalt auch in der deutschen Bevölkerung groß. "Es gibt viele Fälle, bei denen sich Menschen zusammenschließen, die ihren Freunden helfen wollen", sagt Burkhardt.

Rund 80.000 Geduldete leben in Deutschland. Sie haben keine Aufenthaltserlaubnis, können aber etwa wegen fehlender Pässe nicht abgeschoben werden. Hinzu kommen die bislang 85.000 Asylbewerber im laufenden Jahr. "Gemessen an der Zahl der Einwohner liegt Deutschland bei den Asylbewerbern europaweit im Mittelfeld", sagt Burkhardt. Asyl bekommt in Deutschland, wer in seinem Heimatland aufgrund von seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Gesinnung oder sozialen Zugehörigkeit verfolgt wird. Asyl wird auch gewährt, wenn Personen auf Grund von Bürgerkriegen oder anderen gewaltsamen Konflikten nicht in ihr Heimatland zurückkehren können. Voraussetzung ist allerdings, dass der Asylbewerber nicht aus EU-Ländern oder anderen als sicher geltenden Drittländern nach Deutschland einreist.

Abgeschoben werden diejenigen, die einen Pass besitzen, aber keine Aufenthaltserlaubnis haben, und das Land nicht freiwillig verlassen. Minderjährige sind kaum darunter. Die zuständigen Landesinnenminister seien zögerlich, wenn es um Jugendliche ginge, sagt der Pro-Asyl-Geschäftsführer. "Allerdings gibt es immer wieder Fälle in denen Menschen, die hier aufgewachsen sind, abgeschoben werden."

Demonstration in Frankreich gegen Dibrani-Ausweisung - Foto: Thomas Samson (AFP)
Protest in Frankreich gegen Dibrani-Ausweisung: Abschiebungen an der TagesordnungBild: Thomas Samson/AFP/Getty Images

Sadaf Walizada kam vor zwei Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland. Die jetzt zwölfjährige Afghanin konnte nie verstehen, warum ihre Familie abgeschoben werden sollte: "Meine Eltern haben alles versucht, um sich zu integrieren. Sie haben Deutsch gelernt und mich und meine Geschwister zur Schule geschickt", berichtet sie der Deutschen Welle in fließendem Deutsch. Als Bundespräsident Gauck auf ihren Brief antwortete, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Er dürfe sich als Präsident zwar nicht einmischen, werde aber seine Mitarbeiter bitten, in der Ausländerbehörde nachzufragen. Und tatsächlich: Die Familie bekam schließlich Asyl.

Familie durch Abschiebung acht Jahre getrennt

Doch nicht jeder hat das Glück, dass sich der Bundespräsident persönlich für den Verbleib in Deutschland einsetzt. Wie in Frankreich gibt es auch hier durchaus "brutale Abschiebungen", wie Günter Burkhardt von Pro Asyl sie nennt. Ausweisungen, die deutschlandweit für Empörung sorgen.

Etwa 2005, als die damals 24 Jahre alte Gazale Salame das Bundesland Niedersachsen verlassen musste, obwohl sie schwanger war. Ihr Mann und ihre Kinder blieben zurück. Die als staatenlos registrierte Frau besaß einen türkischen Pass, weshalb ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland nicht verlängert wurde. Erst nach acht Jahren, Anfang 2013 durfte Salame wieder zurück in ihr Zuhause in Hildesheim. Nach langem Tauziehen und Protesten von Menschenrechtsvereinigungen hatte der niedersächsische Landtag in Hannover grünes Licht gegeben.

So etwas, findet Günter Burkhardt, dürfe nicht wieder vorkommen. Er fordert die künftige Bundesregierung in Berlin auf, für eine Bleiberechtsregel in Deutschland zu sorgen. Die französische Regierung in Paris wagt sich bislang nicht an eine Reform des Asyl- und Ausländergesetzes - nicht vor den Kommunal- und Europaparlamentswahlen im Frühjahr 2014. Die einzige Verbesserung für Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis ist eine Anweisung des zuständigen französischen Innenministers Manuel Valls: Nach fünf Jahren Aufenthalt in Frankreich haben Asylbewerber die Chance zu bleiben. Leonarda Dibrani und ihrer Familie fehlten dazu zweieinhalb Monate.