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Politik

Trauer als politischer Spielball

9. November 2018

In Berlin eskaliert der Streit über das Gedenken an die Pogromnacht auf den Straßen. Tausende Demonstranten stellten sich den Teilnehmern eines "Trauermarsches" entgegen. Wie rechte Gruppen Geschichte kapern wollen.

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Deutschland Berlin Gegen-Demonstration "Wir für Deutschland"
Zahlreiche Menschen stellen sich dem "Trauermarsch" vom Rechtsbündnis "Wir für Deutschland" entgegen Bild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Deutschland am 9. November. Bundeskanzlerin Merkel gedenkt in Deutschlands größter Synagoge in der Berliner Rykestraße der Opfer der Pogromnacht und warnt vor dem "besorgniserregenden Antisemitismus" in Deutschland. Gleichzeitig inszenieren Mitglieder des Vereins "Wir für Deutschland" einen "Trauermarsch" durch das Regierungsviertel der Hauptstadt.  

Die Demonstration wurde in letzter Minute vom Verwaltungsgericht Berlin genehmigt. Das Gericht hob das von Innensenator Andreas Geisel (SPD) gegen den Verein verhängte Demonstrationsverbot auf. Die Anhänger des als rechtsextrem eingestuften Vereins sind nicht allein: Zahlreiche Gegendemonstrationen machten ihnen die Deutungshoheit streitig.

Der Berliner "Trauermarsch" ist kein Einzelfall: Auch beim Jahrestag der Zerstörung Dresdens durch die Alliierten des Zweiten Weltkrieges am 13. Februar treffen sich rechte Gruppen regelmäßig zu einem "Gedenkmarsch"; auf den Tod des 35-jährigen Tischlers Daniel H. nach einer Messerstecherei reagierten Rechtsextreme in Chemnitz ebenfalls mit "Trauermärschen".

Ausländerfeindliche Parolen statt stille Einkehr: Gemeinsam ist diesen Märschen, dass sie das, woran eigentlich erinnert werden soll, für ihre Zwecke "umdeuten". So nennt es der Rechtsextremismusforscher Florian Hartleb. In Chemnitz waren unter den Rechtsextremen nicht nur dunkle Anzüge und Blumen zu sehen, sondern auch Deutschlandfahnen und geballte Fäuste.

Deutschland Berlin Demonstration "Wir für Deutschland"
Mitglieder des Bündnis' "Wir für Deutschland" beim "Trauermarsch für die Toten von Politik"Bild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Ein Tag, mehrere Gedenken

Das Besondere am 9. November ist, dass sich der Tag nicht nur einem, sondern mehreren Ereignissen zuordnen lässt, dem Tag der Judenpogrome 1938 ebenso wie der Öffnung der Mauer 1989 oder der Ausrufung der Republik vor hundert Jahren. Darauf hatte auch das Berliner Verwaltungsgericht hingewiesen, als es das Verbot des "Trauermarsches" aufhob.

Das Gericht führte nicht nur das Recht auf freie Meinungsäußerung ins Feld und sah durch den Marsch keine "eindeutige Stoßrichtung" gegen das Gedenken am 9. November. Es betonte auch, es handle es sich beim 9. November "nicht um einen speziell der Erinnerung an das Unrecht des Nationalsozialismus und den Holocaust gewidmeten Feiertag". Berlins Innensenator Andreas Geisel sieht das völlig anders: "Wir dürfen offenen Rechtsextremismus unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit nicht länger tolerieren", so hatte er sein Verbot begründet.

Deutschland Geschichte Juden in Berlin Pogromnacht Synagoge
Brennende Synagoge 1938Bild: picture alliance/akg-images

Die Überlagerung mehrerer Gedenktage ist laut Rechtsextremismusforscher Florian Hartleb für rechte Gruppen ein strategischer Vorteil. "Der 9. November eignet sich besonders gut, denn man kann sich den Gedenktag aussuchen, der gerade passt". Allein bei dem Wort "Marsch", so Hartleb, müsse man an die Reichspogromnacht denken, dies werde aber bewusst ignoriert. Selbst das Wort "Trauer" sei unangemessen, denn "es wird das betrauert, was man selbst verursacht hat".

Gegner mobilisieren sich

Die Umdeutung von Dresden 1945 hat eine lange Tradition. Am 13. Februar 1990 – die DDR existierte noch – trat der britische Holocaustleugner David Irving in Dresden auf und sprach von einem alliierten Völkermord. Es war der Beginn von jährlichen Aufmärschen an diesem Tag. Anfangs erschienen nur wenige hundert Neonazis, nach der Jahrtausendwende wurden es immer mehr. Höhepunkte waren die Jahre 2005 und 2010 mit jeweils mehr als 6000 Teilnehmern.

Menschenkette Dresden Gedenken Zweiter Weltkrieg
Menschenkette am 13. Februar in DresdenBild: picture-alliance/dpa/S.Kahnert

Doch in Dresden mobilisierte sich damals auch eine Gegenbewegung. 2010 versperrten fast ebenso viele Gegendemonstranten den Rechten den Weg. Noch mehr Menschen, nämlich um die 10.000, schirmten in einer riesigen Menschenkette die gesamte Innenstadt ab. Zu dieser Aktion hatten Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände aufgerufen. Seitdem findet sie jedes Jahr am 13. Februar statt. Die Rechten meiden deshalb inzwischen das Datum. 

Die AfD macht mit

Das Erstarken rechtsextremistischer Bewegungen scheint nicht unbedingt mit der Anzahl von in Deutschland lebenden Migranten zusammen zu hängen, wie viele, darunter auch die Bundeskanzlerin, bisher angenommen haben. Zwar stimmt die Gesamttendenz: Im Jahr des größten Andrangs 2015 hatten nach Auskunft der Bundesregierung rund 60.000 Rechtsextremisten an Demonstrationen teilgenommen, danach ging diese Zahl stark zurück. Zuletzt ist sie aber wieder deutlich gestiegen. So gingen von Juli bis September 2018 fast 7000 Neonazis zu rechten Protestmärschen, Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen, im Vorjahreszeitraum waren es weniger als die Hälfte. Und in den jüngsten Zahlen sind die Märsche von Chemnitz noch nicht einmal aufgeführt.

Florian Hartleb sieht auch bei der Partei Alternative für Deutschland starke Bestrebungen, Geschichte zu verdrehen. Parteichef Alexander Gaulands Äußerung, der Nationalsozialsozialismus sei nur ein "Vogelschiss" der deutschen Geschichte, sei so ein Versuch. Daher sei es auch falsch, die AfD und rechte Gruppen "nur von der Gegenwartspolitik her zu betrachten".

Als Umdeutung der Geschichte sieht Hartleb auch die Aktion eines einzelnen AfD-Politikers im Berliner Abgeordnetenhaus. Andreas Wild trug ausgerechnet bei der dortigen Gedenkstunde zur Pogromnacht eine blaue Kornblume am Revers.

Ein Symbol, das alles andere als harmlos ist: Die blauen Kornblumen dienten zwischen 1933 und 1938 in Österreich als Erkennungszeichen der damals verbotenen Nationalsozialisten. Zeitweise trugen auch Politiker der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs, die heute Regierungspartei ist, solche Blumen am Revers.

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik