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Am Tod provoziertes Leben: Bergsteigen

17. Januar 2010

Reinhold Messners Bergsteigerkarriere begann mit einem Drama, das der Film "Nanga Parbat" schildert. Über die Ereignisse und die Motivation weiter zu machen, sprach er mit der DEUTSCHEN WELLE.

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Reinhold Messner (Foto: dpa)
Extrembergsteiger Reinhold MessnerBild: dpa

DW-WOLRD.DE: Herr Messner, bei Ihrem ersten großen Bergabenteuer starb Ihr Bruder. Viele Leute hätten nach so einem Erlebnis das Bergsteigen aufgegeben. Was treibt Sie an?

Reinhold Messner: Wenn jemand diese Geschichte vom Nanga Parbat gesehen hat oder nachempfindet, dann stellt sich natürlich die Frage: "Wieso kann jemand das weiter machen?" Und das ist auch eine Schlüsselfrage in meinem Leben. Natürlich haben meine Eltern, meine Brüder und meine Freunde gedrängt, ich solle es lassen. Ich selber war ja gehandicapt: Ich hatte drei Fingerkuppen verloren durch Amputationen und sieben Zehen teilweise oder ganz. Ich konnte also gar nicht mehr so gut klettern wie vorher. Nach der Tragödie meldete ich mich wieder an der Universität an. Die ersten Schritte in die Zivilisation fanden statt. Aber dann habe ich im Januar 1971 die Universität verlassen und nie mehr betreten. Ich habe mich damals entschieden: "Ich mache das jetzt erst richtig!" Vorher war ich ein Felskletterer und ein Eiskletterer. Aber kein klassischer Bergsteiger. Sondern ich habe die schwierigsten Routen der Alpen oder der Anden gesucht. Die Rupalwand war für meinen Bruder und mich nur deswegen eine große Herausforderung, weil es eben eine schwierige Wand an einem großen Berg ist. Also die Herausforderung war nicht unbedingt der Nanga Parbat, sondern die Rupalwand - die höchste Wand der Welt. Eine steile, schwierige Kletterei, die oft versucht worden war, die aber bis dahin niemandem gelungen war. Die uns dann unter sehr schwierigen Umständen gelang. Und wo der Abstieg zur Katastrophe führte.

Szene aus dem Film 'Nanga Parbat' (Foto: Senator Film)
Große Pläne: Reinhold Messner (Florian Stetter) und Bruder Günther (Andreas Tobias) im Film "Nanga Parbat"Bild: Senator Film Verleih

Wie sind Sie mit dem Tod Ihres Bruders umgegangen?

Ich habe nach ein paar Monaten erkannt, dass ich an der Geschichte nichts ändern kann, wenn ich in Zukunft ein braver Ingenieur werde, ein guter Architekt oder was auch immer. Die Geschichte ist passiert, mit der Geschichte habe ich zu leben. Und so wird sie jetzt in dem Film auch erzählt. Das heißt ohne jede moralische Beurteilung. Ich habe damals gemerkt: Klettern kann ich nicht mehr so gut, also werde ich nie mehr die Schwierigkeiten meistern, die ich gemeistert hatte. Also würde ich auch nie mehr die gleiche Befriedigung finden, weil ich eben emotional vom Klettern lebte. Und ich bin dann ein Höhenbergsteiger geworden. Ich wurde genau dort erfolgreich, wo es meinen Bruder getroffen hatte und wo ich beinahe umgekommen bin.

Was heißt das konkret?

Damals gab es nicht die Möglichkeit, einen Achttausender im Gänsemarsch zu besteigen. Wir alle, die wir damals beim Nanga Parbat dabei waren, waren noch nie auf einem Achttausender gewesen. Wir waren alles Neulinge. Und ich habe dann als erster zehn oder fünfzehn Jahre lang das Höhenbergsteigen zu meinem Beruf gemacht. Das heißt, ich habe einen neuen Zugang gefunden. Ich brauchte aber fünf Jahre, um zu begreifen, wie das geht. Und was ich noch gelernt habe: "Das Leben ist begrenzt. Ich mache meine Sache und nicht das, was sich andere Leute für mich vorgestellt haben!" Und immer wenn ich ein Thema bis an meine Grenze entwickelt habe - nachdem ich alle Achttausender bestiegen hatte, darunter den Mont Everest allein - habe ich mich entschlossen, das zu lassen. Das wurde langweilig. Das hatte ich zu sehr im Griff. Dann habe ich etwas Neues angefangen. Im nächsten Jahr beende ich mein "sechstes Leben" mit dem Museum. Dann gebe ich das ab und fange etwas Neues an. Etwas, was ich überhaupt nicht kann.

Szene aus dem Film 'Nanga Parbat' (Foto: Senator Film)
In der Schneehölle: Reinhold und Günther(Florian Stetter und Andreas Tobias)Bild: Senator Film Verleih

Was suchen Sie eigentlich? Ist es eine Todessehnsucht, die Sie in sich tragen?

Nein, das hat mit Todessehnsucht überhaupt nichts zu tun. Der beste Ausdruck dazu kommt von Gottfried Benn: "Bergsteigen ist am Tod provoziertes Leben." Also es ist nicht eine Todessehnsucht, sondern eine Lebenssehnsucht. Im Grunde ist es Außenstehenden nicht klar zu machen. Wir gehen dorthin, wo wir umkommen müssten, um nicht umzukommen. Ein vernünftiger Mensch geht dorthin, wo er nicht umkommen kann, wenn er gern lebt.

Stimmt es, dass Ihre Mutter den Tod Ihres Bruders vorausgeahnt hat?

Ja, die Mütter wissen eben viel mehr, als wir rational wissen können. Eigentlich hat die Mutter ja immer gebremst, logischerweise. Und die Mutter wusste natürlich, dass der kleinere Bruder der kleinere Bruder ist. Der kleinere Bruder ist nicht der schlechtere Bergsteiger, aber er hat weniger Erfahrung.

Wann sind Sie glücklich?

Immer dann, wenn ich auf dem Sprung zur Perfektion bin. Perfektion heißt zum Beispiel der Gipfel. Der Gipfel beim Berg ist ja nicht das, was die Leute denken, nicht der Höhepunkt. Nein! Der Gipfel ist banal, wenn ich ihn erreicht habe. Aber wenn die Idee real wird, das ist Glück. Glück ist ein Prozess, aber kein Zustand. Das, was Glück ist, passiert zwischen der Idee und der Umsetzung. Und wenn es umgesetzt ist, wird es banal und langweilig. Alles, was man hat, auch das Glück, was man erreicht hat, ist langweilig.

Reinhold Messner und Regisseur Joseph Vilsmaier während der Dreharbeiten zu 'Nanga Parbat' (Foto: Senator Film)
Reinhold Messner und Joseph VilsmaierBild: Senator Film Verleih

Im Film sieht man beim Abstieg einige Schatten, und Sie (gespielt von Florian Stetter) sprechen davon, geführt zu werden. War das eine Art göttliche Führung?

Mir ist ein entscheidendes Bild von dem Abstieg geblieben: Ich sehe am Rande meines Auges diesen anderen, der mir sagt, wo es lang geht. Der so zu sagen die richtige Richtung kennt, der mich runter führt vom Berg. Ich kann das aber nicht deuten. Ich kenne viele solcher Fälle, und die glaube ich auch. Das sind keine erfundenen Sachen. Noch viel unerklärlicher ist eine andere Sache: Bei einigen Passagen, also schwierigen Felspassagen beim Abstieg, hatte ich das Gefühl, und das habe ich auch meinem Bruder gesagt: "Hier waren wir schon!" Also jetzt ist es kein Problem mehr. Ich kenne jeden Griff. Wir Kletterer lernen ja bestimmte Passagen bei Erstbegehungen auswendig, wenn sie nicht gleich gelingen. Das heißt, wenn ich genau eine Stelle auswendig kann, kann ich zwei Grade besser klettern. Zwei Grade, das ist viel. Denn dann weiß ich genau, wenn ich da hinkomme, lege ich meine Finger so und so. Das funktioniert dann sofort. Sonst müsste ich erst alles ausprobieren. Und bis ich das durchprobiert habe, sind drei Minuten vergangen, und dann habe ich keine Kraft mehr, und dann gehen die Finger auf, und ich falle runter. Also beim Abstieg wusste ich einige Passagen auswendig. Das ist aber nicht möglich. Ich war dort nie zuvor. Aber ich habe die Hände und die Füße immer in die richtigen Stellen gelegt, so wie ich es auswendig konnte. Das ist mir völlig rätselhaft. Ich will das nicht deuten. Aber so ist es passiert.

Das Gespräch führte Bernd Sobolla.
Redaktion: Klaus Gehrke