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"Westliche Vorstellungen illusorisch"

Daniel Heinrich5. November 2015

Spekulationen über den Absturz des russischen Flugzeuges über dem Sinai sind mit Vorsicht zu genießen - alle Seiten haben politische Interessen, warnt Nahostexperte Michael Lüders im DW-Interview.

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Airbus-Absturz über Ägypten - Regierungschef Sherif Ismail (re.) an der Absturzstelle (Foto: picture alliance/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/A. Maltsev

Deutsche Welle: In Washington und London scheint man sicher zu sein, dass an Bord des in Ägypten abgestürzten russischen Flugzeugs eine Bombe war, dass es sich also um einen Terroranschlag des "Islamischen Staates" handelt. Was ist Ihre Erklärung dafür, dass sich die Russen selber bisher so zurückhaltend äußern?

Michael Lüders: Ich glaube, man muss zu einem so frühen Zeitpunkt generell mit Schuldzuweisungen sehr zurückhaltend sein. Es ist überhaupt noch nicht klar, wer wirklich hinter diesem Absturz steckt. Jede Seite, die sich hier äußert, hat jeweils ganz unterschiedliche Interessen.

Die Ägypter sind sehr daran interessiert, dass nicht der Eindruck entsteht, der Sinai habe ein Terrorismus-Problem mit dem "Islamischen Staat". Das würde nämlich bedeuten, dass der Tourismus in der Region total einbrechen würde. Die Russen wollen natürlich nicht die eigene Bevölkerung beunruhigen. Sie wollen nicht den Eindruck erwecken, dass eine russische Maschine durch eine Rakete des "Islamischen Staates" abgeschossen worden sein könnte.

Nun heißt es, dass eine Bombe an Bord gewesen sei, so sagen es die US-Amerikaner und die Briten. Auch dafür gibt es bislang noch keine Beweise, aber es ist natürlich nicht auszuschließen, dass in Scharm el Scheich eine Bombe an Bord des Flugzeugs geschmuggelt worden ist. Die Sicherheitsbestimmungen an ägyptischen Flughäfen sind eher lasch, verglichen mit europäischen Flughäfen.

Aber man muss das sehr, sehr vorsichtig sehen. Die US-Amerikaner und Briten beeilen sich natürlich mit Hinweisen, da sie der russischen Seite signalisieren wollen, dass das die Quittung für deren Engagement in Syrien ist.

Das wirft die Frage auf: Haben sich die Russen mit ihrem Engagement in Syrien verhoben?

Das russische Engagment in Syrien und dieser Anschlag sind zunächst einmal zwei Paar Schuhe. Die Russen betreiben ihre eigene Machtpolitik in Syrien. Sie sind daran interessiert, dass das Regime von Baschar al-Assad überlebt, denn Syrien ist für die Russen, wie auch für die Iraner, der einzig verbliebene Verbündete in arabischen Welt. Beide Länder haben, ebenso wie China, kein Interesse daran, dass Syrien in die Hände des Westens fällt oder aber vom "Islamischen Staat" vollständig erobert wird.

Michael Lüders, Islamwissenschaftler (Foto: picture alliance/dpa)
Islwamwissenschaftler Michael LüdersBild: picture-alliance/dpa/A. Burgi

Dieses Engagement der Russen sieht die westliche Seite kritisch. Aber die Russen betreiben letztlich genauso rücksichtslos Machtpolitik, wie das auch die westlichen Staaten, die Türkei und die Golfsstaaten in der Vergangenheit gemacht haben, die den Sturz dieses Regimes herbeiführen wollen. Den Preis zahlt letztlich die syrische Zivilbevölkerung, denn ein Frieden in Syrien ist in weiter Ferne.

Wie immer man zum russischen Engagement steht - muss uns nicht alle erschrecken, dass sich der IS jetzt auch an die richtig "großen" Gegner ranwagt?

Aus Sicht des IS ist doch nichts wünschenswerter als eine militärische Intervention ausländischer Mächte, möglichst mit Bodentruppen, in Syrien oder im Irak. Natürlich wissen die Drahtzieher des IS - das sind ja im Wesentlichen ehemalige Generäle des Regimes Saddam Husseins -, dass keine ausländische Macht einen Guerillakrieg in Syrien, dem Irak oder dem Iran gewinnen kann. Wenn also ein westlicher Staat, oder auch Russland, mit Bodentruppen intervenieren würde, dann wäre das ein gefundenes Fressen für den "Islamischen Staat". Dann könnte er sich als Kämpfer gegen den Imperialismus inszenieren.

Reicht denn der Gegner "Islamischer Staat" nicht aus, um ein breites Bündnis der US-Amerikaner, Europäer und Russen zu schließen?

Im Prinzip schon, denn sie haben ja alle einen gemeinsamen Feind. Die US-Amerikaner gehen jetzt auch auf die Russen zu und versuchen, ihre militärischen Schläge gegen den "Islamischen Staat" zu koordnieren. Aber es gibt natürlich immer noch grundlegende Differenzen zwischen den westlichen Staaten einerseits, die das Regime von Assad gestürzt sehen wollen, und den Russen und den Chinesen, die genau das verhindern wollen.

Die westliche Logik war bisher, sowohl den IS zu bekämpfen wie auch einen Regimesturz herbeizuführen. Diese Vorstellung hat sich als eine Illusion erwiesen. Das ist militärisch nicht zu machen.

Das Regime von Baschar al-Assad ist zwar angeschlagen und könnte ohne russische und iranische Hilfe wohl nicht überleben. Aber es gibt immer noch genügend Syrer - und das übersieht man bei uns gerne -, denen die Pest des Assad-Regimes lieber ist als die Cholera eines IS-Einmarsches in Damaskus. Denn genau das würde geschehen, wenn dieses Regime kollabieren würde. Es ist ja nicht so, als ob danach Freiheit, Demokratie und Menschenrechte und ein gemäßtigtes Regime an die Macht kommen würden, so wie das viele Befürworter einer westlichen Militärintervention in Syrien annehmen.

Der promovierte Islamwissenschaftler und Politologe Michael Lüders ist Publizist und Politikberater sowie stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Orient-Stiftung und Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft.

Das Gespräch führte Daniel Heinrich.