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Revolution in Lateinamerika

20. April 2010

Anfang des 19. Jahrhunderts: von Mexiko bis Feuerland regt sich Widerstand gegen die spanische Krone. Doch bis zur Unabhängigkeit ist es ein langer Weg.

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Bolivar-Statue in La Paz, Bolivien
Bolivar-Statue in La Paz, BolivienBild: AP

Man kommt nicht an ihm vorbei in Venezuela: an fast jeder Wand ein Graffiti, in fast jedem öffentlichen Gebäude ein Gemälde, in fast jeder Stadt ein Platz, den sein Name und ein Denkmal schmückt: Simón Bolivar, der "Libertador", der Befreier, führte damals die Unabhängigkeitsbewegung im nördlichen Südamerika an.

Noch heute gilt er als Idol Lateinamerikas – das hat eine vor kurzem durchgeführte Umfrage der spanischen Zeitung "El País" ergeben. Und am Montag (19.04.2010), wenn in Venezuela der Auftakt der Bicentenario-Feiern zelebriert wird, wird Präsident Chávez auch den von ihm angeordneten Festzyklus einleiten: "200 Jahre Unabhängigkeit - 20 Jahre Bolivarische Revolution." Bis 2030 soll der sogenannte "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" entscheidend vorangetrieben werden.

Spanien schwächelt

Simon Bolivar
Simón Boliver - war eigentlich Sohn reicher KaufleuteBild: picture alliance/united archives

In dem Land, dem der große Befreier als Namensgeber diente – Bolivien – nimmt alles seinen Anfang: am 25. Mai 1809 protestieren in der Stadt Charcas, die heute Sucre heißt, Studenten und Bauern erfolgreich für die Freilassung eines Anwalts. Der hatte einen Tumult gegen die spanische Krone angezettelt. Der Aufstand geht als erster "Schrei nach Unabhängigkeit" in die Geschichtsbücher ein. Ähnliches geschieht kurze Zeit später in Ecuador - wie Bolivien damals eine wirtschaftlich starke Region, die genug von den wirtschaftlichen Gängelungen der spanischen Krone hatte.

Spanien ist Anfang des 19. Jahrhunderts ohnehin mit sich selbst beschäftigt: es ist in europäische Kriege verwickelt, will im eigenen Land Größe demonstrieren, braucht Geld. Die Kolonien sollen herhalten. Die ihnen zuvor gewährten Rechte - mehr Selbstverwaltung, größere Handelsfreiheit – werden beschnitten. Doch dort werden Rufe nach Freiheit und Unabhängigkeit laut. Nicht zuletzt aber auch, weil die spanischen Kolonialherren ihre Position als Weltmacht lange eingebüßt hatten, erklärt der argentinische Historiker Luciano de Privitellio.

Flash-Galerie Libertadores
Napoleon Bonaparte marschierte 1808 in Spanien ein und setzte König Ferdinand VII ab. Wegen der langen Wege kam die Information mit enormer verspätung in den Kolonien in Amerika an.

Doch der Auslöser für das Ende des spanischen Kolonialreiches sei Napoleon gewesen: Als dieser in Spanien einmarschiert und König Ferdinand VII. absetzt, sei eine Art Machtvakuum entstanden. "Die Kolonien hatten von heute auf morgen keine Führung mehr", so de Privitellio, das habe in einer Zeit, in der ohnehin Zweifel an der Legitimität der Krone aufgekommen war, "die Revolution ins Rollen gebracht."

Napoleons Todesstoß

Spanien hatte 1805 seine Flotte verloren, in der Schlacht von Trafalgar gegen die Briten. Und wirtschaftlich waren auch für die Kolonien Märkte in Nordeuropa und den USA viel interessanter geworden. Nur, dass es so schnell zum Umsturz kam, hätte wohl niemand vorausgesehen. "Napoleon hat der schwächelnden Weltmacht sozusagen einen Todesstoß versetzt", sagt de Privitellio.

Nach Bolivien und Ecuador erheben sich die Kreolen in Caracas und Buenos Aires. Die Städte waren einerseits unabhängiger von den Hauptzentren der kolonialen Macht – Peru und Mexiko. Andererseits war in ihre Häfen auch das Gedankengut der Revolutionen von Nordamerika und Frankreich geschwappt. Volkssouveränität statt ein König von Gottes Gnaden, heißt es. Im Jahre 1810 entstehen so auch die ersten Cabildos Abiertos – offene Bürgerversammlungen und Regierungsjuntas, die die spanischen Vizekönige ersetzen. Mehr ein Umsturz als eine wirkliche Revolution, meint die deutsche Wissenschaftlerin Barbara Pothast von der Universität Köln. "Es war mehr ein Elitenaustausch hin zu den weißen Kreolen, doch soziale Veränderungen haben zunächst nicht stattgefunden".

Kein Zurück mehr

Schlacht bei Ayacucho
Die Schlacht von Ayacuhco - das letzte spanische Heer geschlagen

Doch es gibt kein Zurück mehr: der Argentinier José de San Martín entfacht ab 1812 einen Befreiungskrieg im Süden des Kontinents, der Venezolaner Simón Bolivar beginnt drei Jahre später von Norden aus gegen die Truppen der Kolonialherren zu kämpfen. 1816 wird Argentinien, ein Jahr später Chile unabhängig. Nach der Schlacht von Boyaca wird 1819 auch Groß-Kolumbien unabhängig, es umfasst die heutigen Staaten Venezuela, Ecuador, Panamá und Kolumbien. Venezuela spaltet sich 1821 als eigenständige Republik ab, im selben Jahr werden Peru, Mexiko und einige Staaten Zentralamerikas unabhängig.

Und schließlich, am 8.Dezember 1824, besiegt Bolívars General Antonio José de Sucre im peruanischen Ayacucho das letzte spanische Heer in Südamerika. Doch die Befreiungskriege münden in jahrelangen Bürgerkriegen – zu groß sind die sozialen, ethnischen und kulturellen Spannungen in den jungen und unstabilen neuen Staaten.

Die Gefahr der Militärs

Es kommt zu blutigen Machtkämpfen: "Den neuen Staaten droht nun die schreckliche Gefahr der Militärs" warnt San Martin die Peruaner schon 1822, als er ins Exil geht. Der vermeintlich "liberale" Simón Bolivar hatte sich gegen den "überzeugten Monarchisten" San Martín zwar durchsetzen können, sagt Pothast. Doch waren beide überzeugt: Nur ein starker zentralistischer Staat kann sich gegen die Interessen der Landbesitzer, der Stadteliten und gegen die Grabenkämpfe der lokalen Caudillos behaupten.

Doch 1830 schreibt ein desillusionierter und kranker Bolívar: "In 20 Jahren des Befehlens bin ich zu einigen wenigen Überzeugungen gelangt. 1. Amerika ist für uns unregierbar. 2. Wer sich der Revolution verschreibt, pflügt das Meer. 3. Das Einzige, was man in Amerika machen kann, ist auswandern. 4. Dieses Land wird in die Hände zügelloser Massen fallen, um später von unbedeutenden Tyrannen aller Farben und Rassen beherrscht zu werden."

Tyrannen aller Farben und Rassen

Die jahrzehntelangen Bürgerkriege prägen die politischen Verhältnisse Lateinamerikas bis heute, meint der argentinische Historiker Felipe Pigna. Dabei hätte sich die Figur des Caudillos herausgebildet: "Derjenige, der anhand von persönlichen Seilschaften statt Gesetzen regiert. Das Recht des Stärkeren wurde in politische Strukturen übernommen."

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Große Unterschiede zwischen Stadt und LandBild: DW-TV

Doch Pigna kritisiert auch, dass Europa Lateinamerika nach wie vor belächele: "Unsere Geschichte ist immer mit Europa und den USA verbunden gewesen: der Völkermord an den Indios, die jahrzehntelangen Militärdikaturen und die Ausbeutung durch europäische oder nordamerikanische Interessensgruppen, die die soziale Ungleichheit und die Armut verschärft haben," so Pigna. Doch genau das habe Lateinamerika viel gelehrt: "Wir wissen, was Krise wirklich bedeutet. Ich glaube, Europa könnte, wenn es denn wollte, viel von uns lernen, nämlich zu sehen, welcher Weg der falsche ist."

Geeintes Lateinamerika

Lateinamerika ist heute der Kontinent mit der größten Schere zwischen Arm und Reich – die Oberschicht lebt im Luxus, aber mehr als jeder Dritte Lateinamerikaner leidet Hunger. Wer daran schuld ist? Die anderen, sagen linke Historiker und Politiker, wir stehen uns selbst im Weg, sagen Konservative. Für Julio Fernandez Baraibar, Mitinitiator des "Hauses der 200-jährigen Unabhängigkeit" in Buenos Aires, steht jedoch fest: "Lateinamerika bewegt sich wieder auf eine Einheit zu, wirtschaftlich, militärisch, politisch und kulturell."

Slum in Brasilien
Herausforderung: soziale UngleichheitBild: picture-alliance/ dpa

Selbst wenn die befreiten Sklaven, die Indios und Mestizen in den neu gegründeten Republiken zu Beginn des 19. Jahrhunderts keinerlei staatsbürgerliche Rechte hatten, müsse man beachten, wie das politische Szenario in dieser Epoche ausgesehen habe: "Außer der Schweiz, den USA und Haiti gab es keine Republiken", so Baraibar, "somit war das sicherlich zukunftsweisend." Und man dürfe auch nicht vergessen, dass im neuen Lateinamerika die Abschaffung der Sklaverei vorangetrieben wurde. Auch wenn sie in vielen Ländern erst schrittweise, teils auch mit Rückschritten durchgesetzt werden konnte. "Die Demokratien Lateinamerikas haben sich gefestigt und auch wirtschaftlich gibt es eine Emanzipationsbewegung", so Baraibar. Das gebe Hoffnung, dass die Zukunft vielleicht in der gemeinsamen Union der lateinamerikanischen Staaten liege, von der Bolivar einst träumte.

Bolivar hatte 1826 versucht, ein geeintes Lateinamerika nach Vorbild der USA zu schaffen. Aber ein Kongress, den er dazu in Panamá einberief, scheiterte: auch weil die Hälfte der Delegierten gar nicht erschien. Parallel zu den 200-Jahr Feiern planen soziale Bewegungen, Indigenenorganisationen und Oppositionspolitiker auch heute zahlreiche Alternativ-Veranstaltungen. Die Herausforderung Lateinamerikas liege vor allem darin, endlich zu akzeptieren, dass seine Identität eben in der Vielfalt liege, sagt auch der Historiker Pigna: "Die wahre Unabhängigkeit müssen wir uns erst noch erkämpfen!"

Autorin: Anne Herrberg

Redaktion: Oliver Pieper