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Politik

Tataren auf der Krim leben in Angst vor Moskau

Juri Rescheto10. September 2016

Seit Russland die Krim vor mehr als zwei Jahren annektierte, wehren sich viele Krim-Tataren gegen die neuen Machthaber. Etliche zahlen dafür einen hohen persönlichen Preis, hat Juri Rescheto vor Ort erfahren.

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Krim Russland - Brückenbau
Künftig soll eine Brücke die Krim mit Russland verbinden - die Bauarbeiten laufen auf HochtourenBild: picture-alliance/Tass/V. Timkiv

Die Luft ist schlecht, aber wir dürfen die Fenster nicht öffnen. Nichts soll von unserem Gespräch nach draußen dringen. Seit einer halben Stunde sitzen wir im Auto irgendwo am Stadtrand von Bachtschisaray. Es ist kurz nach Mitternacht. Mein Gegenüber spricht leise. Am Anfang ist er skeptisch. Nach und nach öffnet sich der Mann und ich merke, dass er viel, sehr viel zu erzählen hat. Weil er hofft, dass ich ihm irgendwie helfen kann. Eine andere Hoffnung habe er nicht. Auch habe er keinen Glauben mehr an die Gerechtigkeit.

Es ist das Leid eines Vaters, dessen Sohn bereits im Mai dieses Jahres entführt wurde und von dem bisher angeblich jede Spur fehlt. Angeblich, weil es eigentlich jede Menge Spuren gab. Das Video der Überwachungskamera zum Beispiel, auf dem die Entführung deutlich zu sehen ist. Nachts. Vor der eigenen Haustür. Beleuchtet von Straßenlaternen. Auch dürfte es den einen oder anderen Zeugen geben, schließlich geschah das mutmaßliche Verbrechen vor einem mehrstöckigen Plattenbau.

Reportage Annexion Krim Entführung
Ein Krimtatare erzählt dem DW-Reporter von der Entführung seines SohnesBild: DW/R. Richter

Leben in ständiger Angst

Der junge Krimtatare Mustafa (ich nenne ihn aus Sicherheitsgründen so) ist Mitglied im Weltkongress der Krimtataren. Wurde er deswegen entführt? Sein Haus in Bachtschisaray zu finden, war einfach. Schwer war es, den direkten Kontakt zu seiner Familie herzustellen. Weil Mustafas Eltern in Angst leben. In ständiger Angst. Wie viele Krimtataren auf der von Russland kontrollierten Halbinsel. "Es herrscht Gesetzlosigkeit", klagt sein Vater. "Pure Willkür. Du kannst dir nie sicher sein, was mit dir in der nächsten halben Stunde passiert."

Ein paar Tage später frage ich gemeinsam mit einem Kollegen den so genannten Ministerpräsidenten der ukrainischen Halbinsel Krim, Sergej Aksjonow, direkt nach Mustafas Schicksal. Er wirkt, als habe er genau diese Frage von uns zwei westlichen Journalisten erwartet. Die Antwort kommt sofort. Es ist dieselbe, die Mustafas Vater seit Wochen hört: "Die Rechtsschutzorgane der Republik Krim tun alles Mögliche, um diesen Fall schnellstmöglich aufzuklären."

Minderheit unter Generalverdacht

Mustafas Familie ist nicht die einzige unter den Krimtataren, die den neuen Wind auf der ukrainischen Halbinsel Krim zu spüren bekommen. Im April dieses Jahres wurde der Medschlis, die Selbstverwaltung der Krimtataren in Russland, als eine "extremistische Organisation" eingestuft und verboten. Die Behörden hatten offenbar Angst, dass die Krimtataren, die mehrheitlich gegen die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim gestimmt hatten, zu Massenprotesten aufgerufen werden könnten. Seitdem steht die ganze Minderheit unter Generalverdacht...

Reportage Annexion Krim Abendessen
Viele Angehörige der Minderheit auf der Krim bauen Ihre Lebensmittel selbst anBild: DW/R. Richter

Ich bin im Garten der Familie Osmanow. Drei Kinder haben sie, zwei Mädchen und einen Jungen. "Um mich selbst mache ich mir keine Sorgen, sagt Vater Aivaz. Um meine Kinder schon." Der grauhaarige Mann, Anfang fünfzig, spricht leise aber mit Nachdruck: "Wir leben auf einem Pulverfaß. Man setzt unser Volk enorm unter Druck. Ich rechne jeden Morgen damit, dass die Polizei kommen kann, um mich zu verhören und mein Haus zu durchsuchen." Osmanow ist Vorsitzender der lokalen Medschlis-Organisation. Sein Kollege, Vorsitzender des regionalen Medschlis sei seit zwei Jahren hinter Gittern, erzählt er besorgt. Ein anderer Aktivist dürfe das Land nicht verlassen. Gegen einen dritten werde gerade ermittelt.

Spielball der Mächtigen

Natürlich kenne er den Fall Mustafa. Alle wüßten davon in der Umgebung, aber niemand könne etwas dagegen tun. Die Osmanows selbst leben seit dreißig Jahren auf der ukrainischen Halbinsel Krim. Sie kamen, wie die meisten Krimtataren, in den 1990er Jahren erneut auf die Halbinsel, nachdem ihre Familien durch Stalin 1944 zunächst kollektiv von der Krim deportiert worden waren. Fast alle nach Zentralasien. In Viehwaggons, in einer brutalen Nacht- und Nebelaktion...

Heute leben viele von ihnen als Selbstversorger auf dem Land. Aivaz baut seit Jahren das eigene Haus. Für die Kinder, sagt er, für seine sechsköpfige Familie, für die Zukunft. Der Tisch, an dem wir gemeinsam zu Abend essen, biegt sich unter Köstlichkeiten. Die Krimtataren sind gastfreundlich, ich weiß das zu schätzen. Vor allem aber schätze ich die Offenheit, mit der sie über ihre Lage sprechen. Denn die Lage ist ernst. Sehr ernst.

Reportage Annexion Krim Zukunft
Vor allem um die Zukunft ihrer Kinder machen sich die Krimtataren SorgenBild: DW/R. Richter

Machtdemonstration an Andersdenkenden

Osmanow berichtet von Ilmi Umerow, einem weiteren Medschlis-Aktivisten, der in eine psychiatrische Klinik in Simferopol eingewiesen worden war. Der langjährige Verwaltungschef der Region Bachtschisaray wurde am 18. August verhaftet, weil er öffentlich die Annexion der Krim kritisierte. Der 59-Jährige forderte eine Rückgabe der Halbinsel an die Ukraine. Ihm wird seitdem Separatismus vorgeworfen, Artikel 280.1 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation. Schon nach drei Tagen in der Psychiatrie verschlechterte sich der Zustand Umerows, der an Diabetes, Herzproblemen und Parkinson leidet. Nach drei Wochen in der Psychatrie wurde Umerow mittlerweile entlassen. Sein Anwalt Nikolaj Polosow nennt den Fall gegenüber der DW "empörend". Der russische Geheimdienst versuche damit, ein deutliches Signal zu senden: "an alle Krimtataren, die mit der Politik Russlands nicht einverstanden sind."

Und Mustafa aus Bachtschisaray? Ist er ebenfalls in der Psychiatrie? Hinter Gittern? Am Leben? Nach einer halben Stunde nächtlichen Gesprächs im Auto sagt sein Vater mit einer leisen, gebrochenen Stimme: "Ich wünsche mir nur eins: meinen Sohn zurück. Lebendig und gesund. Sonst will ich gar nichts."