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Wie "Bach für die Musik": Alfred Hitchcock

Jochen Kürten
12. August 2019

Vor 120 Jahren wurde der britische Regisseur Alfred Hitchcock geboren. Seine Filme sind kaum gealtert. Warum das so ist, erklären drei Hitchcock-Experten. Dass der Regisseur zum Klassiker gereift ist, hat mehrere Gründe.

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USA Film Filmregisseur Alfred Hitchcock
Bild: Imago/Granata Images

Auch im digitalen Zeitalter ist Hitchcock ein Begriff. Auf den ein oder anderen Hitchcock-Film stößt man sogar im Angebot der weltweit agierenden Streamingportale Amazon, Netflix und Co. Und das will schon was heißen: Klassiker der Filmgeschichte gehören nicht gerade zum Markenkern der US-Anbieter.

Doch einen Hitchcock-Film schauen sich sogar jüngere, nachwachsende Generationen an. Wie ist zu erklären, dass gerade dieser vor genau 120 Jahren (am 13. August 1899) geborene britische Regisseur heute noch so populär ist? Wir haben nachgefragt - bei drei deutschen Hitchcock-Experten.

Hitchcocks Meisterwerke haben nichts von ihrer Faszination verloren

"Die 53 Filme Alfred Hitchcocks tragen etwas Zeitloses in sich: Die meisten seiner Filme haben sich durch die Jahrzehnte hinweg gut gehalten, sie sind nicht ihrer Zeit verhaftet", erklärt der Filmpublizist Thilo Wydra, der u.a. Bücher über Hitchcock-Darstellerinnen wie Grace Kelly, Ingrid Bergman oder eben den Meister selbst vorgelegt hat. Wydra nennt Beispiele: "Sieht man heute etwa 'Das Fenster zum Hof', 'Vertigo' oder 'Psycho' neu oder gar - was wäre das für ein großes Glück! - erstmals, so haben diese Meisterwerke absolut nichts von ihrem Sog, von ihrer Faszination, von ihrer hohen visuellen Wirkungskraft verloren."

Alfred Hitchcock Die Vögel - Szene mit Tippi Hedren, die von einem Vogel angegriffen wird
Intensiv wie nur wenige Film von heute: "Die Vögel" mit Tippi HedrenBild: picture-alliance

Das werde besonders auf großer Kinoleinwand deutlich: "Wenn man einen Film wie 'Die Vögel' aus dem Jahr 1963 bereits kennt, so ist er, kann man ihn auf Leinwand sehen, von einer solchen Wucht, Unmittelbarkeit und Intensität, wie nur wenige Filme, die heute aktuell produziert werden." Hitchcock sei "vollkommen zeitlos, sein Werk altert nicht."

Hitchcock wollte sein Publikum nicht belehren

Der Münchner Autor Alexander Kluy weist auf einen anderen Grund für die anhaltende Popularität Hitchcocks hin: "Alfred Hitchcock wollte das Publikum niemals belehren." Er habe vor allem unterhalten wollen. "Daher auch die Entscheidung für das Genre des Thrillers, Psychothrillers, Spannungsfilms." Hinzu kämen "visuelle Eleganz, dramaturgische Verve, eine ironische Handschrift, Ambiguitäten der Symbole und Zeichen."

Flash-Galerie Alfred Hitchcock Psycho: Janet Leigh kurz vor dem Dusch-Mord in "Psycho"
Eine der berühmtesten Szenen der Filmgeschichte: Janet Leigh kurz vor dem Dusch-Mord in "Psycho"Bild: AP

Der Hitchcock-Spezialist Ingo Kammerer, der u.a. an der Universität Augsburg lehrt, nennt einen weiteren Grund: Hitchcock sei ein "wahrer Meister der Selbstvermarktung gewesen". Das beträfe unterschiedliche Bereiche. "Hitchcock" sei zu einem Namen geworden, der "wiedererkannt wird und sich deshalb gut verkaufen lässt." Jede Generation stoße irgendwann auf Alfred Hitchcock, ist Kammerer überzeugt.

Spuren in der Popkultur hinterlassen: der Regisseur Alfred Hitchcock

Wenn dies nicht über die Filme geschehe, "dann möglicherweise über Jugendromane ('Drei ???'), Sachbuch-Ratgeber ('So würde Hitchcock präsentieren'), Füllfederhalter ('Limited Edition Alfred Hitchcock' von 'Montblanc') oder die Kunst (das Projekt des belgischen Künstlers J. Grimonprez 'Looking for Alfred')."

"Hitchcocks Einfluss auf die moderne Popkultur kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden", ergänzt Thilo Wydra.

USA Doris Day in THE MAN WHO KNEW TOO MUCH: Doris Day schreit
Da schrie selbst All-American Girl Doris Day - in "Der Mann, der zuviel wusste" von 1956Bild: picture-alliance/Mary Evans Picture Library

Und womit hat Hitchcock das erreicht? Für Kammerer ist die "außergewöhnliche narrative Ökonomie" des Regisseurs entscheidend. Es gebe "keinen Überfluss - jedes Detail hat eine wesentliche Funktion im Plot, nichts ist nur mal eben so dabei. Diese besondere Reduktion auf das Notwendige und seine ästhetische Umsetzung durch Kamera und Blickmontagen kann man als Wegmarken in die Kinomoderne bezeichnen."

Der Regisseur "kommunizierte" mit seinem Publikum

Für Kammerer ist auch Hitchcocks Umgang mit den Zuschauern bemerkenswert. Am Beispiel seines Klassikers "Psycho" ließe sich das gut erklären: "Das (Publikum, A.d.R.) manipuliert er natürlich, lässt ihm aber auch manchen 'Freiraum' zur Teilnahme." Der französische Philosoph Gilles Deleuze habe diese Interaktion zwischen Künstler und Publikum "mentales Bild" genannt: "Erst der Zuschauer mache das Erzählen vollständig. Hitchcock sei der erste, der das filmisch umgesetzt habe." Kammerer: "Diese Spannungsform des Zuschauer-Mehrwissens hat Hitchcock zweifellos für den Film perfektioniert."

Vertigo von Alfred Hitchcock mit Kim Novak und James Stewart halten sich im Arm über den Wolken
Einfach überirdisch schön: Kim Novak und James Stewart in "Vertigo"Bild: picture-alliance

Alexander Kluy sieht das ähnlich: Hitchcocks "Stärke war das Spiel mit den Erwartungen des Publikums in Sachen Spannung und Spannungsverzögerung, meistenteils ironisch eingefärbt, so dass er zum 'Mitfiebern' einlud und noch immer einlädt." Darüberhinaus täten sich für "cineastisch Fortgeschrittene" Interpretations-Welten auf: Dies sei "ein Spiel mit unterhaltender Oberfläche und einer nicht selten subversiven, hier sadistischen, dort morbiden Tiefe, die erst beim wiederholten Ansehen zutage tritt und vermutlich jeder nachfolgenden Generation als zeitgenössisch erscheint."

Nachfolgende Regiegenerationen arbeiteten sich an Hitchcock ab

Für die drei deutschen Hitchcock-Experten ist gerade auch die Tatsache, dass sich Regisseure nachfolgender Generationen immer wieder auf den Meister berufen, ihn nachahmen und zitieren, bemerkenswert: "Die Liste der Regisseure, die von Hitchcocks Werk beeinflusst wurden, ist endlos und reicht bis in die Gegenwart hinein", sagt Thilo Wydra.

Der Hitchcock-Experte listet auf: "Angefangen bei der französischen 'Nouvelle Vague' - allen voran die beiden größten Hitchcock-Jünger Claude Chabrol und François Truffaut - über Amerikaner wie Martin Scorsese, Steven Spielberg und Brian De Palma, bis hin zu jüngeren Regisseuren, darunter Frankreichs Wunderknabe François Ozon." Alle seien "entscheidend von Hitchcocks subtiler Visualität, seinem Stil, seiner Bildsprache, sowie von seinen Musiken und bezwingenden Klangteppichen geprägt."

"Ich kämpfe um dich": Gregory Peck und Ingrid Bergman in Ski-Szene
Surreal: Für "Ich kämpfe um dich" mit Gregory Peck und Ingrid Bergman holte sich Hitchcock auch Hilfe von Salvador DaliBild: picture alliance/United Archives/IFTN

Alexander Kluy: "Im Optischen und Technischen - Bildausschnitt, Kameraführung, Montage - dürfte der eine Grund für den Einfluss auf so viele liegen, der andere Grund ist wohl die noch immer aktuelle wie aufregende moralisch-psychologische Tiefenbohrung in den Seelen seiner Figuren, die höchst poly- bis ambivalent sind."

Das betreffe manchmal auch die Drehorte moderner Hollywood-Filme, wie Kluy erläutert: Die Brüder Ethan und Joel Coen hätten ihren Film "'The Man Who Wasn't There', die Charakterstudie eines Mannes, in Schwarz-Weiß, in Santa Rosa gedreht: jener Kleinstadt, in der knapp 60 Jahre zuvor Hitchcock seinen raffiniert verstörenden, latent verheerend-destruktiven Film 'Im Schatten des Zweifels' in Schwarz-Weiß gedreht hatte."

James Bond und Co. sind ohne Hitchcock nicht denkbar

Auch Kammerer pflichtet dem bei: "Im Genre 'Thriller' ist Hitchcock immer mit dabei, in den 'Mission-Impossible'- und 'James-Bond'-Serien muss man sich 'Der unsichtbare Dritte' vergegenwärtigen." Suspense werde im Filmgeschäft "nicht gerade selten verwendet, ebenso der strudelgleiche 'Vertigo-Effekt'". Steven Spielberg habe die "Maisfeldszene aus 'Der unsichtbare Dritte' auf einen ganzen Film ('Duell') ausgedehnt, und 'Die Vögel' im Ozean versenkt ('Der weiße Hai')."

Buchcover Hitchcock - Neuerscheinungen aus Deutschland, die auch z.T. in Englisch, Französisch und Italienisch vorliegen
Über Alfred Hitchcock wird auch im 120. Geburtsjahr noch fleißig publiziert

Brian de Palma, der im Hollywood-Kino lange Jahre als größter Hitchcock-Verehrer galt, habe "eine Weile so nah am Meister (gearbeitet), dass ihm das öffentliche Urteil als unkreativer Epigone irgendwann lästig wurde und er meinte, ja, klar, Hitchcock sei für den Film das, was Bach für die Musik wäre: eine nicht zu umgehende Autorität."

Auch Tom Tykwer begab sich auf Hitchcocks Spuren

Aus Deutschland wäre Tom Tykwer zu nennen: Der sei "in Lola rennt' in 'Vertigo'-Farben durch Berlin" gejagt. Auf Hitchcock-Hommagen treffe man dann auch noch in manchen Serien der Streaminganbieter: Die "außergewöhnliche Netflix-Serie 'Black Mirror' (hat) manchen Hitchcock-Moment", erzählt Ingo Kammerer.

Und so tritt der britische Meisterregisseur Alfred Hitchcock auch im digitalen Zeitalter auf, im 120. Jahr seiner Geburt: Nicht nur mit seinen eigenen Werken, sondern auch als großer Strippenzieher, als Einflüsterer und Lehrmeister ganzer Regiegenerationen.

Zum Weiterlesen: Die drei Autoren haben in jüngster Zeit Bücher über Alfred Hitchcock vorgelegt. Thilo Wydras Bild- und Textband "Hitchcock's Blondes" ist bei Schirmer/Mosel erschienen. Ingo Kammerers Untersuchung "Hitchcock - Angstgelächter in der Zelle" liegt beim "Mühlbeyer Filmbuchverlag" vor. Alexander Kluys kompaktes Buch über Hitchcock ist bei Reclam herausgekommen. Und Paul Duncans opulenter Bild- und Textband "The Complete Films" liegt in mehreren Sprachen bei "Taschen" vor.