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Wie Berlin auf Erdogan reagiert

Kay-Alexander Scholz, Berlin18. Juli 2016

Der gescheiterte Putschversuch in der Türkei ist für das deutsch-türkische Verhältnis eine große Belastungsprobe. Denn er befeuert mehrere Konflikte, die zwischen den beiden Partnerländern ohnehin schwelen.

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Bildkombo Angela Merkel Recep Tayyip Erdogan (Foto: picture-alliance/dpa/Sagolj/Zivulovic/Kombo)
Bild: picture-alliance/dpa/Sagolj/Zivulovic/Kombo

Wenn alle in den Ferien sind, passiert politisch nicht viel. So erzählen zumindest ältere Kollegen in Berlin. Doch das politisch-journalistische "Sommerloch" ist in den letzten Jahren meist ausgefallen, sodass es langsam zur Legende wird.

Irgendwann dieser Tage soll auch Angela Merkel ihren Sommerurlaub beginnen - ein genauer Zeitraum oder der Urlaubsort wurden bislang allerdings nicht bekannt. Die Kanzlerin sei immer im Dienst, heißt es dazu nur. Anscheinend hält auch Merkel das "Sommerloch" für eine Legende. Ein Blick auf die politische Wetterlage zeigt warum: Die Folgen des Brexits, die sich anbahnende Bankenkrise in Italien, der IS-Terrors und derzeit allen voran der Putschversuch in der Türkei - all das wird Merkel wohl in den kommenden Tagen und Wochen ohne Pause beschäftigen.

Nachdem Merkel am Wochenende zunächst mit der Forderung nach "Rechtstaatlichkeit und demokratischen Regeln" auf die Vorgänge in der Türkei reagierte, ließ sie am Montag über ihren Regierungssprecher zwei Botschaften verbreiten.

Erstens: "Ein Land, das die Todesstrafe hat, kann nicht Mitglied der Europäischen Union sein", sagte Steffen Seibert in Berlin. Sollte Recep Tayyip Erdogan die Todesstrafe wieder einführen, dann wäre damit eine rote Linie überschritten. Damit zeigte die Bundesregierung klare Kante - parallel zur Europäischen Union. Fast zeitgleich sagte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini in Brüssel: "Kein Land kann Mitgliedstaat der EU werden, wenn es die Todesstrafe einführt."

Flüchtlingsabkommen soll unverändert gelten

In der Frage des Flüchtlingsabkommens zwischen EU und Türkei hatte die Reaktion aus Berlin eine andere Tonlage. Das Abkommen sei "getrennt und unabhängig" von den aktuellen Geschehnissen zu sehen, so Seibert. Schließlich sei das Abkommen in beiderseitigem Interesse und funktioniere derzeit gut. Auch in diesem Punkt gab es verbale Übereinstimmung mit Brüssel. Man hoffe, dass die Regierung in Ankara ihre Zusagen genauso wie die EU weiter umsetze, hieß es aus Brüssel.

Das klang geschmeidiger als die Botschaft in Sachen Todesstrafe. Verständlich, denn zum einen ist die Flüchtlingsfrage für Merkel politisch wertvoller als eine mögliche EU-Mitgliedschaft der Türkei, die in ihrer Partei, der CDU, ohnehin eher kritisch gesehen wird. Und zum anderen muss sie den Kontakt zu Ankara aufrecht erhalten. Denn der Flüchtlingsdeal, der auf Initiative Berlins zustande kam, ist für Merkel essentiell. Passend dazu betonte CDU-Generalsekretär Peter Tauber nach einer Sitzung des Parteipräsidiums, dass sich alle in diesem Punkt einig seien: "Mit wem solle man denn sonst ein solches Abkommen schließen?", fragte Tauber. Außerdem gebe es noch andere EU-Anrainerstaaten mit Regierungen, "die nicht unseren Gepflogenheiten entsprechen", mit denen man aber trotzdem in Flüchtlingsfragen sprechen müsse. Das klang schon fast trotzig.

Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei (Foto: Getty Images/AFP/O. Kose)
EU-Türkei-Deal: Nicht alle Punkte funktionieren so gut wie die Rückführung illegal eingereister Flüchtlinge in die TürkeiBild: Getty Images/AFP/O. Kose

Kern des Flüchtlingsabkommen sind Milliardenzahlungen an die Türkei zur Bewältigung des Flüchtlingsstroms und für die Aufnahme von Flüchtlingen, die illegal aus Europa eingereist sind. Das ist eine Win-Win-Situation, doch einige Punkte sind bisher nicht umgesetzt. So pocht die Türkei darauf, dass ihre Staatsbürger ohne Visum in die EU reisen dürfen, während Brüssel darauf verweist, dass die Voraussetzungen dafür noch nicht erreicht sind. Auch Regierungssprecher Seibert machte in Berlin noch einmal deutlich, dass es keinen "Abschlag" bei den Bedingungen für die Visafreiheit gebe.

Streit um Bundeswehrsoldaten in der Türkei

Als wären diese Punkte nicht schon kompliziert genug, spitzt sich auch noch der Streit um die 240 Bundeswehr-Soldaten zu, die auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik stationiert sind. Der türkische Staat verwehrt Bundestagsabgeordneten die Genehmigung, die Soldaten zu besuchen. Der türkischstämmige Chef der Grünen, Cem Özdemir, forderte die Bundesregierung auf, Ankara eine Frist zu setzen: Entweder könnten die Parlamentarier zu den Soldaten reisen oder aber die Soldaten müssten zurück nach Deutschland kommen, so Özdemir. Auch von den Linken, der anderen Oppositionspartei im Bundestag, kam die Forderung, die militärische Zusammenarbeit zu beenden.

Deutscher Tornado in Incirlik, Türkei (Foto: Bundeswehr/Falk Bärwald/dpa)
Streitpunkt Incirlik: Die Türkei lässt keine deutschen Parlamentarier zur TruppeBild: picture-alliance/dpa/Bundeswehr/Falk Bärwald

Schon kurz vor dem Wochenende hatten auch CDU- und SPD-Politiker mit einem Abzug der Truppe gedroht. Die Militärrevolte hatte dann zusätzliche Argumente dafür geliefert. Inzwischen jedoch hieß es aus dem Verteidigungsministerium, die Lage vor Ort habe sich entspannt: Die Stromversorgung funktioniere wieder, sagte ein Sprecher, die Soldaten seien wohlauf. Deutsche Tornados und Tankflugzeuge im Anti-IS-Kampf seien wieder in der Luft.

Neue Herausforderung: der "zivile Putsch"

In der Bewertung der Vorfälle haben Grüne und Linke mittlerweile die Tonlage verschärft und sprechen mit Blick auf die Niederschlagung von einem "zivilen Putsch". Die Bilder der Lynchjustiz seien beängstigend, sagte Özdemir. Merkel müsse aus der Deckung kommen, dürfe nicht länger zuschauen, sondern müsse handeln, sagte Linken-Chef Bernd Riexinger.

Zunächst wolle man abwarten, sagte Regierungssprecher Seibert, zu diesem Punkt. Die Bundesregierung werde der Türkei klar machen, dass sich Deutschland - wie die meisten Türken und Vertreter aller Parteien im türkischen Parlament sei - auf die Seite von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stelle. Man werde nun mit "kritischer Sympathie" verfolgen, wie sich die Türkei vom Schock erhole und darstelle. Inzwischen, heißt es, habe Merkel mit Erdogan telefoniert. Über die genauen Inhalte wurde bisher jedoch nichts bekannt.

Generell bleibt die Sorge in Berlin über die Geschehnisse in der Türkei und die Frage, wie man den Dialog führen soll: "Ich bin mir sicher, dass die türkische Führung nicht taub ist, aber sie ist natürlich sehr beeindruckt und beeinflusst durch die Verhältnisse, die über das Wochenende stattgefunden haben", sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier auf eine Frage nach der Empfänglichkeit der Türkei für Kritik.