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Wie die Nazis Berlins florierende Modeindustrie zerstörten

Shlomit Lasky
12. Juli 2023

Schon lange vor der Berlin Fashion Week war Berlin ein wichtiges Zentrum der Modebranche. Jüdische Unternehmer leisteten dort Pionierarbeit für Konfektionskleidung. Das wird oft vergessen.

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Fünf Frauen in Kleidern stehen neben einem Mann im Anzug vor Garderobenstangen voller pelzbesetzter Mäntel
1932: Designer Erwin Scharlinki mit Models der Firma Leopold Seligmanns, einem der größten Modehäuser jener ZeitBild: Uwe Westphal

Obwohl die gut besuchte Berlin Fashion Week zweimal im Jahr stattfindet, gilt Berlin heute nicht gerade als Modehauptstadt. Deshalb sind selbst Berliner überrascht, wenn sie erfahren, dass ihre Stadt vor dem Zweiten Weltkrieg eine blühende Modemetropole war. Das war vor allem jüdischen Unternehmern zu verdanken.

Die Berliner Bekleidungsindustrie entstand in den 1830er-Jahren. Als in den 1850ern die industrielle Nähmaschine eingeführt wurden, veränderte das die Situation grundlegend: Ein Hemd konnte nun in einer statt in acht Stunden genäht werden. Inmitten dieses Industrialisierungsprozesses machten es die sozialen und politischen Verhältnisse in Deutschland jüdischen Unternehmern möglich, den Ton anzugeben.

Blütezeit der Konfektionshäuser in der Kaiserzeit

Jahrhundertelang hatten die in Deutschland lebenden Juden unter gesetzlichen Beschränkungen gelitten; so war es ihnen unter anderem nicht erlaubt, alle Berufe auszuüben. Das erschwerte es ihnen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und trieb viele in die Armut. Viele waren Hausierer, die mit Kurzwaren und gebrauchter Kleidung handelten. Wohlhabende Juden dagegen vertrieben edle Stoffe, erklärt Uwe Westphal, freier Journalist und Autor des Buches "Modemetropole Berlin 1836 - 1939. Entstehung und Zerstörung der jüdischen Konfektionshäuser". Westphal hat fast vierzig Jahre lang zur vergessenen jüdischen Modeindustrie in Berlin geforscht und gelehrt.

Eine Zeichnung zweier Frauen in Kleidung im Stil der 20er-Jahre neben einem Lampenschirm
Ein Design aus den 1920er-Jahren von Lissy Edler (später Alice Newman) für die Firma Loeb & LevyBild: Uwewestphalarchives

Eine historische Entwicklung trug nach Ansicht Westphals besonders zum Erfolg der jüdischen Konfektionshäuser bei: Auf die Industrielle Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts folgte im Jahr 1871 die Gründung des Deutschen Reichs. Dessen Verfassung räumte Jüdinnen und Juden neue Rechte ein, was wiederum zu einer Blütezeit jüdischen Lebens in Deutschland führte. 1871 lebten in Berlin knapp über 800.000 Menschen, in den 1920ern waren es bereits über vier Millionen, von denen vier Prozent jüdischen Glaubens waren. Jüdinnen und Juden wanderten aus Agrar-Regionen in die Stadt, in der Hoffnung auf Arbeit. "Unter ihnen waren Schneider, Näherinnen und Unternehmer wie David Leib Levin aus Königsberg. Er gründete eine Fabrik für Frauenmäntel und führte um 1840 als einer der Ersten Festpreise für seine Waren ein", so Westphal. 

Berlin als Zentrum der Mode

Die neuesten Modetrends aus Paris, besonders jene aus der Haute Couture, waren für die Mittelklasse unerschwinglich. Doch gerade Büroangestellte hatten ein wachsendes Interesse daran, modisch auszusehen. Also kamen die jüdischen Unternehmer auf die Idee, "nach standardisierten Massen billige modische Bekleidung anzufertigen", erklärt Westphal. "Der Bedarf war da, und die Branche wuchs rasch."

Die Berliner Modeindustrie erreichte in den Goldenen Zwanziger Jahren ihren Höhepunkt, mit mehr als 2700 Modefirmen, die vor allem jüdischen Familien gehörten. Namen wie die Gebrüder Manheimer, David Leib Levin, Nathan Israel und Hermann Gerson waren synonym mit dem neuen Trend des Prêt-à-porter.

Jüdische Unternehmer passten sich schnell den Bedürfnissen der neuen industriellen Ära an: "Sie hatten ein Gefühl dafür, was die Menschen mochten und internationale Verbindungen zu Textilproduzenten", so Uwe Westphal. Die Ware wurde in prächtigen Kaufhäusern verkauft, die ebenfalls meist jüdischen Familien gehörten.

Berlins Modeindustrie war auch international erfolgreich und exportierte in die USA und die Niederlande, nach England, Skandinavien und Argentinien. Berlin bot günstige, stylishe und qualitativ hochwertige Alltagskleidung an. Die Ideen für die Designs holte man sich direkt von den Pariser Modeschauen. Das Business boomte.

Eine lächelnde blonde Frau mit Bluse und Rock auf einem Magazin, auf dem in Frakturschrift "Arbeit und Wehr" steht
Die Titelseite der Zeitschrift "Arbeit und Wehr", die ab 1938 "arisierte" Mode präsentierteBild: Uwe Westphal

Der Niedergang der jüdischen Modeindustrie

Antisemitismus und Neid auf den Erfolg der jüdischen Modemacher gab es von Anfang an. Aber mit Hitlers Machtergreifung im Jahr 1933 standen sie massiv unter Druck - zunächst mit dem Boykott gegen jüdische Geschäfte am 1. April desselben Jahres. Die jüdischen Unternehmen wurden dann systematisch von Unterstützern der nationalsozialistischen Partei übernommen. "Hinzu kam, dass Juden bald verboten wurde, Bankkredite aufzunehmen. Für die Bekleidungsfirmen war das eine Katastrophe. (...) Man machte den jüdischen Firmeninhabern bewusst das Leben schwer", erzählt Westphal. So waren Juden zunächst gezwungen, Parteimitglieder der NSDAP zu Geschäftspartnern zu machen, um an Kredite zu kommen. Und am Ende mussten sie ihnen ihre Firmen für lächerlich niedriges Geld überlassen. 

Im November 1938 stürmten Unterstützer der Nazis zahlreiche jüdische Geschäfte am Hausvogteiplatz in Berlin-Mitte, dem Zentrum der jüdischen Bekleidungsindustrie. Sie zerstörten alles, was ihnen in die Hände fiel: "Von 2700 jüdischen Modebetrieben waren nur noch 24 übrig, und diese wurden spätestens 1940 enteignet." Laut Uwe Westphal hatten die Nazis vor allem Interesse an den Immobilien rund um den Hausvogteiplatz, da die Partei neue Büros brauchte. Jüdische Näherinnen schufteten fortan als Zwangsarbeiterinnen in Konzentrationslagern.

Frauen in einfacher Kleidung sitzen an Nähmaschinen dicht gedrängt in einem Raum
Näherinnen im Konzentrationslager AuschwitzBild: Yad Vashem Archiv

Josef Neckermann und Hugo Boss sind nur zwei von zahlreichen deutschen Modefirmen, die von der Zwangsübernahme der Nazis profitierten. "Sie überwachten die Produktion von Kleidung und Militäruniformen", so Westphal. Die Berliner Modedesigner der 50er und 60er-Jahre hatten keine Konkurrenz mehr von jüdischer Seite zu befürchten. Zu jener Zeit hatte sich die westdeutsche Modeindustrie aufgrund der Teilung Berlins aber bereits nach Düsseldorf und München verlagert. Die Regierung der DDR hatte kein großes Interesse an Mode. In den 70ern spielte Mode aus Deutschland schließlich keine wichtige Rolle mehr.

In Vergessenheit geraten

"Alles, was Mode einmal ausmachte, gerade in den 1920er Jahren, Modeschulen, die übergreifende Kultur zwischen Mode, Architektur, dem Bauhaus, der Musik, der Filmindustrie und überhaupt den bildenden Künsten. Alles das wurde völlig zerstört", sagt Uwe Westphal.

"Das Erschreckende ist für mich, dass sich seit 1945 niemand an diese Modekultur erinnern will. (...) Kein Gedenken an die vielen jüdischen Modedesigner, nicht an die Zwangsarbeitslager, nicht an die tausenden von Näherinnen die einst in Berlin wirkten. Kein Designerpreis für Nachwuchstalente mit den Namen der Gründer von 1836." Dies stehe im krassen Gegensatz zu vielen deutschen Firmen, die zutiefst im Nazi-Staat involviert waren. 

Ein Manhnmal, das die Umgebung spiegelt, mit einem Kranz daran, dahinter eine U-Bahnstation
Die Gedenkstätte am HausvogteiplatzBild: Uwe Westphal

Anfang der 1990er-Jahre führte Uwe Westphals Frust über die "Mauer des Schweigens" gegenüber der jüdischen Vergangenheit der Berliner Modeindustrie dazu, dass er mit Unterstützung der jüdischen Gemeinde in Berlin für ein Mahnmal am Hausvogteiplatz warb. Es wurde im Jahr 2000 eingeweiht, unterstützt vom Berliner Senat. 

Die Blütezeit der jüdischen Modehäuser in Berlin ist lange vorbei, doch im Rahmen der Jüdischen Kulturtage wird am 7. September 2023 eine deutsch-jüdische Modenschau in Berlin stattfinden, mit deutschen und israelischen Designern. Zum ersten Mal seit 1939.

Aus dem Englischen adaptiert von Philipp Jedicke und Nikolas Fischer.