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Wie gefährlich sind Europas Atomkraftwerke?

Dirk Kaufmann1. Oktober 2012

Die EU-Kommission hat die europäischen Atomkraftwerke einem Stresstest unterzogen. Doch die Veröffentlichung der Untersuchung wird verschoben - die Ergebnisse sind wohl zu ernüchternd.

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Die Kühltürme des Kernkraftwerkes im niedersaechsischen Grohnde auf der Weser. (Foto: AP Photo/Focke Strangmann)
Bild: AP

Günther Oettinger ist der EU-Kommissar für Energiefragen. Bevor er nach Brüssel ging, war er Ministerpräsident in Baden-Württemberg. Als Landespolitiker muss der CDU-Politiker davon überzeugt gewesen sein, dass die Atomkraftwerke in seinem Bundesland sicher sind, sonst hätte er ihnen ja die Betriebserlaubnis entziehen müssen. Als EU-Kommissar muss er nun einen Bericht darüber vorlegen, wie sicher die Atomkraftwerke in Europa und auch Deutschland wirklich sind.

Laut der Tageszeitung "Die Welt" stellt dieser Bericht den Sicherheitskonzepten der Atomkraftwerke in Europa ein vernichtendes Zeugnis aus. Ursprünglich sollte der Bericht schon seit Monaten vorliegen, dann wurde seine Veröffentlichung auf den 3. Oktober verschoben. Am Montag (01.10.2012) teilte eine Sprecherin von Energie-Kommissar Oettinger überraschend mit, dass die Untersuchung nun doch nicht vor dem 18. Oktober vorgelegt werden könne, sie sei noch nicht abgeschlossen.

EU-Energiekommissar Günther Oettinger bei einer Rede (Foto: dpa - Bildfunk)
EU-Kommissar Günther Oettinger ist mit dem Stresstest-Bericht im VerzugBild: picture-alliance/dpa

Die EU-Kommission hatte nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima untersuchen lassen, ob ein solcher GAU (Größter Anzunehmender Unfall) auch in Europa geschehen könnte und was gegen die Gefahren unternommen wird. In der EU werden 68 Atomkraftwerke betrieben, die mit 134 Reaktoren Strom produzieren. Diese Kraftwerke stehen in 14 der 27 Mitgliedsstaaten, ihre Sicherheitsstandards wurden auf den Prüfstand gestellt.

Kein Schutz gegen Flugzeugabsturz

#video#Jochen Stay ist Pressesprecher der Anti-Atomkraft-Organisation "ausgestrahlt" und beschäftigt sich mit den Gefahren der friedlichen Nutzung von Atomkraft. Er habe sowieso keine großen Erwartungen an die Aussagekraft des Berichts, sagt er im Gespräch mit der DW, weil "die Basisdaten von den Kraftwerksbetreibern selbst stammen. Die haben im Prinzip einen Fragebogen zugeschickt bekommen und konnten dann ausfüllen, wie es bei ihnen um die Sicherheit bestellt ist", erläutert er und fügt hinzu: "Nur etwa ein Drittel der Anlagen wurden überhaupt von externen Prüfern besucht."

Als weiteren Mangel der Untersuchung rügt Stay, dass die Folgen eines Flugzeugabsturzes über einem Atomkraftwerk gar nicht Gegenstand der Überprüfung gewesen seien: "Das wurde ganz außen vor gelassen." Hierzulande etwa habe die Reaktorsicherheitskommission bereits festgestellt, "dass kein Atomkraftwerk in Deutschland gegen einen solchen Absturz abgesichert ist".

Kosten in zweistelliger Milliardenhöhe

Zum Glück für die Kraftwerksbetreiber. Sollten sie ihre Anlagen nämlich gegen ein solches Ereignisse sichern müssen, wäre das das Ende der Atomenergie in Europa: "Wollte man alle Atomkraftwerke gegen Flugzeugabstürze absichern, wäre das unbezahlbar. Stromproduktion aus Atomkraft würde sich dann überhaupt nicht mehr rentieren", sagt Stay.

Atomkraftwerk Fessenheim in Frankreich. (Foto: Patrick Seeger / dpa)
Soll 2016 stillgelegt werden: das französische Atomkraftwerk Fessenheim an der Grenze zu DeutschlandBild: picture-alliance/dpa

Wie "Die Welt" berichtet, schätzt die EU-Kommission die Kosten, die auf die Betreiber der europäischen Atomkraftwerke für die Beseitigung der angeprangerten Missstände zukommen auf bis zu 25 Milliarden Euro. Wenn aber der Schutz gegen Flugzeugabstürze gar nicht Teil des Stresstests gewesen ist, dann können auch die Kosten für diesen Punkt in der von der EU genannten Summe nicht enthalten sein. Die wahren Kosten für den Schutz würden also sehr viel höher liegen.

Zu wenig Druck - zu viel Zeit

Ein Satz im Abschlussbericht des Stresstests macht klar, dass die europäischen Atomkraftwerke schon seit langer Zeit nicht als sicher gelten können. Die EU-Beamten beklagen, dass die Erkenntnisse, die aus der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 gewonnen wurden, in vielen Mitgliedsländern der EU nicht zu einer Anpassung der Sicherheitsanforderungen geführt haben. "Die Welt" zitiert den Bericht mit den Worten: "Auch Jahrzehnte später steht die Umsetzung dringender Sicherungsmaßnahmen noch immer aus."

Jochen Stay erstaunt das nicht: "Das erleben wir immer wieder." Beim Atomkraftwerk im hessischen Biblis etwa seien Auflagen aus den 1980er Jahren bis zur Stilllegung des Meilers im Jahr 2011 nicht erfüllt worden, erinnert er. Daran seien die Behörden aber selbst schuld. Sie könnten ein Atomkraftwerk doch stilllegen, bis Auflagen erfüllt und Nachbesserungen vorgenommen worden sind. "Aber nein, es werden oft sehr lange Fristen gesetzt", klagt Stay. Der Betrieb würde weiterlaufen, bis die Betreiber irgendwann die Auflagen dann doch erfüllen - oder nicht, wie im Falle Biblis.

Das stillgelegte Atomkraftwerk Bibils im deutschen Bundesland Hessen (Foto: ddp images/Kyodo)
Im hessischen Atomkraftwerk Biblis wurden die Sicherheitsauflagen bis zur Stilllegung im vergangenen Jahr nicht erfülltBild: AtKyodo/AP/dapd

Nur ein Beruhigungsmittel

Ob der in der übernächsten Woche vorgestellte Bericht der EU-Kommission tatsächlich so verheerend ausfällt wie vorhergesagt, ist aus Sicht von Umweltaktivist Stay unerheblich. Er hält den Stresstest eher für ein propagandistisches Beruhigungsmittel der EU-Kommission. "Der Öffentlichkeit wird suggeriert: Wir machen einen Stresstest, wir machen Sicherheitsauflagen, wir tun etwas gegen die Risiken." Faktisch würden die Auflagen aber nie umgesetzt, glaubt Stay.