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Wie junge Geflüchtete Berlin erkunden

Gero Schließ
25. August 2017

Berliner Jugendliche und junge Geflüchtete treffen sich, um gemeinsam die Stadt Berlin und ihre Geschichte zu erkunden. Und es geht um noch mehr bei diesem Projekt des Deutschen Historischen Museums.

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Jugendliche stehen vor einem Plakat mit einer historischen Maueransicht.
Bild: DHM/Melanie Huchler

Am Anfang steht ein Ratespiel: Einer der Jungen steht vor der Gruppe und umschreibt den nächsten Begriff. Wie nennt man das, wenn ein Staat durch Gewalt umgestürzt wird? Genau, das ist eine Revolution. Einige der neun Jugendlichen, die an diesem Morgen im Jugendzentrum Werk 9 in Berlin Mitte zusammenkommen, haben mit Gewalt und Umsturz schon ihre ganz eigene Erfahrung gemacht.

Geflüchtete und Berliner

Jugendliche betrachten Bilder vom alten Berlin
Deutsche Geschichte kompakt: Tour durchs Deutsche Historische MuseumBild: DHM/Daniel Sauer

Das wird bereits klar bei der Vorstellungsrunde: Irak, Syrien, Afghanistan – die geflüchteten Jugendlichen kommen aus den Kriegs- und Krisenregionen der Welt. Das Deutsche Historische Museum (DHM) hat sie mit Gleichaltrigen aus Berlin für drei Tage zusammengebracht. "Lebensmittelpunkt" nennt sich das Projekt, das bereits zum dritten Mal stattfindet. Berlin ist dieser Lebensmittelpunkt, das haben alle Jugendlichen gemeinsam. Doch die einen leben schon lange hier, die anderen sind Neu-Berliner. Angeleitet von Theater- und Museumspädagogen erkunden sie gemeinsam die Stadt und ihre Geschichte, wenn sie etwa in Tandems zum  Brandenburger Tor oder zum Checkpoint Charly, dem einst bekanntesten Grenzübergang durch die Berliner Mauer, ausschwärmen. Am Ende soll eine kleine Ausstellung mit persönlichen Gegenständen das Ergebnis dokumentieren.

Muntaha ist 19 Jahre alt und stammt aus dem irakischen Mossul. Sie ist Jesidin und lebt gemeinsam mit ihrer Mutter und den Schwestern in Berlin. Der Vater ist bereits tot. Muntaha weiß noch genau, wann sie in Berlin eintraf: Es war der 26. Oktober 2015. Es muss eine Erlösung für sie und ihre Familie gewesen sein. Die junge Frau wirkt schüchtern, zurückhaltend. Sie kämpft noch mit dem Deutschen, ringt gleichsam um jedes Wort. Man traut sich kaum, Muntaha nach ihrem Leben in Mossul zu fragen.

Deutsch lernen, Freunde finden

Schriftzug auf einem Stahlband - hier verlief die Berliner Mauer
Checkpoint Charlie: Hier verlief die Berliner MauerBild: DHM/Melanie Huchler

Von Berlin und der Mauer habe sie schon in der Schule gehört, sagt sie. Ja, und auch in Mossul habe es trennende Mauern gegeben. Hier beim Projekt ist sie, um weiter Deutsch zu lernen und neue Freunde zu finden. 

Um letzteres geht es auch Jasper, ein junger Deutscher, der mit seinen 13 Jahren offener und selbstbewusster wirkt als Muntaha. Der blonde Junge ist in China, Japan und zuletzt London aufgewachsen, bevor er mit seinen Eltern nach Deutschland zurückkehrte. Er sei auch so eine Art Flüchtling, sagt Japser schmunzelnd und verweist auf den Brexit. Jasper weiß bisher wenig von deutscher Geschichte, will aber mehr darüber erfahren. Außerdem würde er anderen gern dabei helfen, Deutsch zu lernen.

In der Pause des ersten  Tages – zwischen Kennenlernspielen und Falafelessen, misst er seine Kräfte am Kicker mit Abdol. Der großgewachsene 17-Jährige mit Wollmütze auf dem Kopf stammt aus dem afghanischen Kundus, dort, wo auch viele Deutsche seien. Abdol lebt seit zwei Jahren alleine hier. Er hat eine Wohnung im Stadtteil Wedding. Seine Eltern haben ihn nach Deutschland geschickt, weil es zu gefährlich wurde in der Heimat. Geht es ihm gut hier? "Natürlich ja, ich bin sicher hier", antwortet er ziemlich bestimmt. Till aus Pankow ist gemeinsam mit seiner Schwester Hanna beim Projekt dabei. Er hatte bisher wenig Kontakt zu Geflüchteten, sagt der 17-Jährige. Das sei ein großes Thema und "schwierig, darüber zu reden".

Deutsche Geschichte

Am Nachmittag des ersten Tages geht es ins Deutsche Historische Museum: Eine geballte Lektion deutscher Geschichte erwartet die Jugendlichen. Gut die Hälfte von ihnen hatte vorher angegeben, wenig oder gar nichts darüber zu wissen.

Ein Fragebogen zum Ankreuzen der Eindrücke
Checkliste für den Checkpoint Charlie: Der Ortsbesuch ist gut vorbereitet. Bild: DW/G. Schließ

Am nächsten Tag dann Recherche vor Ort: Begleitet von DHM-Volontärin Melanie Huchler sind Muntaha, Mia und Hanna zum Checkpoint Charlie gekommen, jenem Grenzübergang, wo sich Amerikaner und Russen im Kalten Krieg, während der Zeit der Berliner Mauer gegenüberstanden. Hier treffen sie Jürgen Brühmann. Er arbeitete früher in der Nähe und ist heute Rentner. Brühmann führt die drei Mädchen genau an die frühere Grenze und erzählt von einer dramatischen Begebenheit, die er mitbekommen hat: Ende Oktober 1961 standen sich hier Panzer der USA und der Sowjetunion direkt gegenüber, an der Grenze zwischen dem damaligen amerikanischen und russischen Sektor. Ein Panzerrohr der Amerikaner ragte über die Grenze hinüber auf sowjetisches Gebiet. Schließlich zwang Hauptmann Heinz Schäfer von den DDR-Grenztruppen den amerikanischen Leutnant Verner Pike zum Rückzug. Brühmann hält alte Zeitungsausschnitte hoch.

Fake-Soldaten am Checkpoint Charly

Die Mädchen sind beeindruckt. Ansonsten stört sie der Touristen-Trubel am Checkpoint und auch die "Fake-Soldaten" vor dem Wachhaus. Jene Männer, die sich in Uniform gegen Geld fotografieren lassen. "Das sind ja keine Soldaten, das sind ja Schauspieler", meint Muntaha und man merkt, dass sie das angesichts der Geschichte des Checkpoints nicht für angemessen hält. Doch die Sandsäcke vor dem Wachhaus wirken echt. Sie erinnern Muntaha an den Krieg in ihrer Heimat-Stadt. Ohnehin sei die ganze Situation schwer zu verstehen; nämlich "dass eine Stadt aufgeteilt von zwischen fremden Ländern, obwohl sie den Berlinern gehört", so bringt es Mia auf den Punkt.

In einer selbstgebalstelten Kiste eröffnet sich ein Blick auf die Situation an der einstigen Berliner Mauer.
Muntahas Uhr auf der Mauer: Die Jugendlichen gestalten ihre Ausstellungsbox. Bild: DHM/Martha Zan

Genug Diskussionsstoff also für den letzten Tag, an dem die Jugendlichen unter Hochdruck an der Ausstellung arbeiten. Sie versuchen ihre Eindrücke und Ideen in einer kleinen Box zu versammeln. Am Ende wird alles vor Publikum präsentiert. Muntaha hat die Nachbildung einer Uhr für die mit Mia und Hanna gestaltete Box mitgebacht. Die Uhr hat sie schon im Irak getragen. Sie ist genau auf den Tag und die Uhrzeit eingestellt, an dem sie die Türkei in Richtung Deutschland verließ. Hier in der Box, die den Checkpoint Charlie nachempfindet, liegt sie symbolträchtig auf der Mauer. Genauso eine Grenze wie jene, die Muntaha damals überschritten hat.