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Politik

"Niemand kann erwarten, dass es uns gut geht"

Gezal Acer
19. Mai 2017

Nazire Kalkan Gürsel setzt sich für die Entlassung ihres Mannes, “Cumhuriyet”-Journalist Kadri Gürsel, ein. Im DW-Interview spricht sie über die Einschränkung der Pressefreiheit und ihre Familienkatastrophe.

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Türkei Kadri Gursel
“Cumhuriyet”-Journalist Kadri Gürsel vor seiner VerhaftungBild: Getty Images/AFP/O. Kose

Kadri Gürsel ist einer der Journalisten, die im Rahmen eines Polizeieinsatzes bei "Cumhuriyet” festgenommen wurden. Seit dem 31. Oktober 2016 sitzt er im Silivri-Gefängnis in Istanbul in Haft. Ihm wird vorgeworfen, "Taten im Namen einer Terrororganisation begangen" zu haben, allerdings "ohne Mitglied einer Terrororganisation zu sein". Nach der letzten Ankündigung wird die erste Verhandlung erst am 24. Juli stattfinden.

Neben seiner journalistischen Tätigkeit ist Kadri Gürsel auch der Präsident des türkischen Nationalkomitees des International Press Institute (IPI). Die Türkei ist Schwerpunktthema des diesjährigen IPI-Medienkongresses in Hamburg (18. bis 20. Mai). Seine Frau, die Journalistin Nazire Kalkan Gürsel, nimmt an der Veranstaltung teil und überbringt eine Botschaft ihres Mannes aus dem Gefängnis. 

Nazire Kalkan Gürsel
Nazire Kalkan Gürsel Bild: privat

DW: Frau Gürsel, Ihr Ehemann Kadri Gürsel sitzt seit über 200 Tagen in Haft. Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?

Nazire Gürsel: Wir konnten uns gar nicht vorstellen, dass es so lange dauern würde. Uns wird einmal pro Woche nur ein sogenannter geschlossener Besuch (bei dem man durch ein Fenster miteinander spricht; Anm. d. Red.) erlaubt, obwohl uns laut Gesetz ein offener Besuch (bei dem man direkt miteinander sprechen kann; Anm. d. Red.) pro Monat zusteht. Aber sie uns bieten das kaum einmal in zwei Monaten an. Unser zehnjähriger Sohn hat seinen Vater seit der Inhaftierung nur dreimal gesehen. Wir erleben dieses Ereignis als eine Familienkatastrophe. Die Journalisten von "Cumhuriyet" wurden im Rahmen eines Polizeieinsatzes festgenommen, der bloß eine Stunde gedauert hat. Sie sind ohne Anklage ins Silivri-Gefängnis gesteckt worden. Sie müssen noch zweieinhalb Monate warten, bis sie endlich vor dem Richter stehen. Unter diesen Umständen geht es weder ihnen noch uns gut. Niemand kann von uns erwarten, dass es uns gut geht.

Welche Unterstützung bekommen Sie von IPI?

IPI ist eine der Institutionen, die uns am meisten unterstützen. Auch das Europäische Parlament, der Europarat und die Vereinten Nationen unterstützen. Nun ist der Fall beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gelandet. Aber IPI hat mir vom ersten Tag an beigestanden. Da Kadri da Vorstandsmitglied ist, fühlen sie sich auch verletzt. Zum ersten Mal in der Geschichte vom IPI sitzt ein Vorstandsmitglied im Gefängnis.

Die Sorge um die Pressefreiheit in der Türkei ist ein wichtiges Thema für die deutsche Politik. Welche Unterstützung verlangen Sie von Deutschland?

Ich teile das nicht nach Deutschland, Türkei, England oder Frankreich ein. In allen Ländern gibt es Menschen, die vor Freiheiten Respekt haben und solche die weniger Respekt haben. Deutschland ist sowohl für Europa als auch für die Welt ein bedeutsames Land. Ich denke, dass sowohl die Gesellschaft als auch die Regierung sich sehr verantwortungsvoll verhalten. 

"Die Welt"-Reporter Deniz Yücel sitzt auch im Silivri-Gefängnis. Er hat die deutsche und die türkische Staatsangehörigkeit. Es wird kritisiert, dass Deutschland ihn stärker unterstützt, weil er deutscher Staatsbürger ist. Was sagen Sie dazu?

Ja, ich denke, diese Kritik gibt es. Deniz Yücel war dem türkischen Publikum vorher nicht bekannt. Heute kennt ihn jeder und ich bin mir sicher, dass er auch in Deutschland bekannter geworden ist. Der etwas stärkeren Aufmerksamkeit Deutschlands gegenüber unserem Freund muss man Verständnis entgegenbringen. Jedoch darf das nicht auf eine einzelne Person beschränkt bleiben, sondern man muss die Verletzungen der Pressefreiheit in der Türkei aus einer breiteren Perspektive betrachten.

Wegen der Unterdrückung nach dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli haben zahlreiche Journalisten die Türkei verlassen. Was halten Sie von dieser Entscheidung?

Es ist eine sehr bedauerliche Entscheidung, aber wie können wir diese Menschen überhaupt kritisieren? Denn Journalismus ist in der Türkei fast unmöglich geworden. Wenn Sie in der Türkei journalistisch tätig sind, ist es sehr wahrscheinlich, dass Sie verhaftet werden. Und wenn Sie verhaftet werden, ist es sicher, dass Sie monatelang, ohne einem Richter vorgeführt zu werden, in Haft sitzen, oder sogar eine Verurteilung ohne ordentliches Gerichtsverfahren erleben. Wie kann man unter diesen Umständen journalistisch arbeiten? Selbstverständlich müssen Menschen andere Wege und Kanäle finden. Ich glaube daran, dass die Herzen aller dieser Menschen in der Türkei sind. Ich bin mir daher sicher, dass sie ganz schnell in die Türkei zurückkehren werden, wenn sich die Umstände ein bisschen normalisieren.

Wenn Ihr Mann nun nicht im Gefängnis säße, würden Sie unter den gegebenen Umständen ins Ausland gehen?

Ich habe bereits Angebote in dieser Richtung bekommen. Wir waren daran nicht interessiert und wir sind daran auch künftig nicht interessiert.

Das Interview führte Gezal Acer.