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"Wie konnten sie ihm das nur antun?"

Rainer Sollich, Haifa4. September 2006

Auch in Israel sind 43 Zivilisten getötet worden, durch Raketenangriffe der Hisbollah. Julya Glicklichs Vater ist eines der Todesopfer. Sie spricht über den Verlust und hat Fragen, auf die es wohl keine Antwort gibt.

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Raketeneinschlag in HaifaBild: AP

Es geschah am 23. Juli um 19.30 Uhr auf einer Straße in Haifa. Shimon Glicklich hatte einen ganz normalen Arbeitstag hinter sich. Er hatte sich im Altenheim um "seine Senioren" gekümmert und freute sich bereits auf den Feierabend. Der 60-Jährige war wie jeden Tag mit dem Auto unterwegs. Plötzlich gab es einen lauten Knall.

"Die Katjuscha-Rakete fiel direkt vor sein Auto", erzählt seine trauernde Tochter Julya Glicklich und kramt ein paar Fotos ihres Vaters hervor. "Er wurde von diesen Patronen getroffen, die sie immer in die Katjuschas hineinpacken, diese kleinen Kugeln. Er wurde am Kopf und an der Brust verwundet. Er war sofort tot."

Den Schmerz verstehen

Julya Glicklich sitzt im Wohnzimmer ihrer Familie am Stadtrand von Haifa und weint, das ganze Interview über. Aber sie will sprechen über das, was ihrer Familie passiert ist. "Die Leute im Ausland sollen das erfahren", sagt die 23-Jährige. "Sie sollen wissen, was hier die ganze Zeit über während des Krieges passiert ist."

"Es ist wichtig für mich: dass die Leute den Schmerz verstehen, dass sie meinen Schmerz verstehen - und den Schmerz aller Menschen hier, die hier von so etwas betroffen sind. Und dass man auch versteht, dass die Menschen, die hier nicht zu Opfern geworden sind, einen Monat lang terrorisiert wurden. Dass sie jede Minute fürchten mussten, dass ihnen oder ihren Familien etwas zustößt", sagt Julya Glicklich.

Die Glicklichs: Endlich als jüdische Familie im "gelobten Land"

Die Familie Glicklich lebt in einer eher ärmeren Gegend in einem mehrstöckigen Mehrfamilienhaus. Das Treppenhaus sieht schäbig aus. An den Haustüren stehen keine Namen, sondern nur Nummern; die meisten Nachbarn sind eingewanderte Juden aus Äthiopien. Auch die Glicklichs stammen nicht aus Israel. Sie kamen vor 15 Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aus Russland nach Israel. Der getötete Vater musste dabei einen beruflichen Prestigeverlust hinnehmen. In Moskau war er Manager in einer großen Fabrik gewesen, in Haifa fand er nur einen Job als Altenbetreuer. Aber wichtiger war ihm, seiner Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen, die Chance, ein Studium als Sozialarbeiterin zu beginnen. Und auch als jüdische Familie endlich im "gelobten Land" Israel leben zu können.

"Wir sind damals hierher gekommen, weil wir Juden sind. Meine Eltern dachten, dass dies für mich ein besserer Ort sein würde, um aufzuwachsen und zu leben. Und dass auch ich dann in dem Land lebe, in dem alle Juden leben sollten - in Sicherheit." Jetzt, sagt Julya Glicklich, verstehe sie die Welt nicht mehr. Sie kann immer noch nicht begreifen, wie das passieren konnte - und warum. Ihr Vater habe niemals einem Menschen etwas zu Leide getan. "Er war doch unschuldig", sagt sie. "Wie konnten sie ihm das antun?" Fragen, auf die sie immer noch keine Antworten finden kann.

"Jetzt habe ich sehr viel Angst"

"Wir waren nie sehr an Politik interessiert. Wir haben bloß Nachrichten geschaut und Zeitung gelesen - nur um zu wissen, was so passiert. Alles was wir wollten, war unser Leben zu leben. Bevor das mit meinem Vater passiert ist, war ich mir immer sehr sicher, dass uns so etwas niemals zustoßen könnte. Man sieht so etwas sonst nur im Fernsehen, man hat dann auch Mitleid - aber man kann sich nicht vorstellen, dass man selbst einmal betroffen sein könnte. Diese Möglichkeit ist so gering! Aber jetzt habe ich sehr viel Angst", sagt die junge Frau.

Trost findet Julya Glicklich nur in der Tatsache, dass sie mit ihrem Schmerz nicht alleingelassen wird. Der Bürgermeister von Haifa kam nicht nur mit zur Beerdigung. Er sorgte auch dafür, dass die Familie einen Sozialbetreuer bekommt, der sich um die Alltagsangelegenheiten der Familie kümmert - und um die notwendigen Formalitäten nach dem Tod des Vaters. Viel Zuspruch, sagt die 23-Jährige, habe es auch von Nachbarn und Verwandten gegeben, ebenso von zahlreichen jüdischen Wohlfahrtsvereinigungen. Alle hätten angeboten zu helfen.

Die Schuld gibt Julya Glicklich nur der Hisbollah

Trotz ihrer Trauer und ihrem Desinteresse an der großen Politik weiß Julya Glicklich zu differenzieren. Sie gibt einzig der Hisbollah die Schuld am Tod ihres Vaters, der Hisbollah und ihren Unterstützern in Syrien und Iran - nicht den Arabern insgesamt, wie manche anderen Israelis das tun. An der Universität habe sie viele arabische Mitstudenten, mit denen sie sich sehr gut verstehe, betont sie. "Manche von denen mag ich wirklich sehr. Und denen mache ich auch wirklich keine Vorwürfe. Es ist nicht so, dass ich wirklich sie nicht leiden könnte - bloß weil sie Araber sind. Sie waren ja auch von diesem Krieg betroffen. Ich weiß nicht, wie andere das hier sehen - aber ich selbst sehe keinen Unterschied zwischen uns und ihnen. Ich will, dass wir hier in Frieden zusammenleben."